Misanthropische Betrachtungen

Macht es einen Unterschied, ob man von einem Hai zerrissen oder von einer Harpune aufgespießt wird?

Dass vom Menschen nicht nur Gutes zu erwarten ist, weiß jedes Kind. Selbst die Philosophen, die ihn so lange mit Definitionen wie „Zoon politicon“ oder „Animal rationale“ verharmlost hatten, greifen heute zu drastischeren Bezeichnungen wie „das Untier“ (Ulrich Horstmann) oder „Gröökaz“ – „größte ökologische Katastrophe aller Zeiten“ (Reinhard Löw). Über derart realistische Selbsteinschätzungen hilft gewöhnlich der Gedanke hinweg, der Mensch werde nur als Opfer politischer Verhältnisse und beruflicher Standortzwänge zur Gefahrenquelle, sei „an sich“ – modern gesprochen: nach Feierabend – aber harmlos und gut. Das wäre er vielleicht, bliebe er dann auch wirklich zu Hause.

Doch der Mensch des 21. Jahrhunderts mutiert in seiner Freizeit immer wieder zum Homo touristicus, zu jenem Wesen, das der Öde des Alltagslebens entflieht, Freiheit und Abenteuer sucht und auf seinem Weg zum Freizeitglück weder Grenzen anerkennt noch Risiken scheut – und dadurch zum Risiko für andere wird.

Gemeint ist nicht die beklemmende Tatsache, dass man als Autofahrer erst einmal die Anreise überleben muss, weil es auf den Fernstraßen nur so wimmelt von gestressten Urlaubsanwärtern. Solche Gefahren sind banal. Außerdem geht es während des sommerlichen Massenexodus auf den verstopften Autobahnen inzwischen so langsam vorwärts, dass man sich bei einem Unfall kaum noch verletzen kann.

Bemerkenswert und neu sind dagegen Risiken, die durch die Freizeitgestaltung am Urlaubsort selbst entstehen, z. B. an Renommierbergen wie Montblanc, Monviso und Matterhorn, auf denen heutzutage offenbar jeder einmal gestanden haben muss. Die meisten Toten fordert hier keineswegs die Natur, sondern die dilettantische Kollegenschar – man stirbt durch herabstürzende Steine, die andere Naturbegeisterte weiter oben achtlos lostraten. Entsprechende Gefahren lauern mittlerweile aber auch in gemäßigteren Gefilden – durch die irreversible Verbreitung von Freizeitsportgeräten, die man ruhigen Gewissens Waffen nennen kann: Doppelt gefederte Mountainbikes etwa, auf denen Kamikazeradler zu Tal schießen, oder die neuen Rollerbikes, die wie Kinderroller des 23. Jahrhunderts aussehen und downhill Geschwindigkeiten von hundert Stundenkilometern erlauben. Ganz abgesehen von den messerscharf geschliffenen Stahlkanten ganz normaler Skier und Snowboards, mit denen die entfesselte Jugend im Winterhalbjahr auf Seniorenjagd geht.

Eine ganz neue Form der Bedrohung durch Touristen wird jetzt aber von den Küsten Südafrikas und Floridas gemeldet. Immer größerer Beliebtheit erfreut sich dort die so genannte Hai-Safari, ein scheinbar harmloses Touristenvergnügen, das es allerdings in sich hat. Es besteht darin, dass sich Zeitgenossen mit Hang zum Nervenkitzel von einem Boot aus in sicheren Eisenkäfigen im Meer versenken lassen. Dann werfen die Veranstalter blutige Fleischstücke ins Meer, um die Raubfische anzulocken. Durch die Gitterstäbe geschützt, kann man sie nun aus nächster Nähe beobachten und ihnen in den zahnbewehrten Rachen schauen. Leider steht zu befürchten, dass sich die Tiere nun auch am nahe gelegenen Badestrand nach Frischfleisch umzuschauen beginnen – vor Floridas Küsten kam es jedenfalls unlängst innerhalb von 48 Stunden zu sechs Haiangriffen auf Schwimmer und Taucher.

Verteidiger der spektakulären Raubtierfütterungen verweisen jedoch darauf, dass es – statistisch betrachtet – immer noch wahrscheinlicher ist, bei der Autofahrt zum Strand als bei einer Begegnung mit einem Hai zu Tode zu kommen. Außerdem sei der Konflikt in Wirklichkeit einer zwischen zwei rivalisierenden Tourismusindustrien. Dort, wo Konzessionen für Hai-Safaris erteilt werden, wird nämlich das genauso lukrative Geschäft mit Harpunentauchern verboten. Dem gewöhnlichen Strandurlauber dürfte das egal sein. Es macht nun mal keinen großen Unterschied, ob er von einem Hai zerrissen wird oder an der Harpune eines wild gewordenen High-Tech-Tauchers endet.

GERHARD FITZTHUM