Projekt 18 im Elchtest

Ehrgeizige Pläne hat die FDP. In Berlin will sie aus dem Nichts gleich in den Senat. Man staunt, wer alles dabei sein will. In der Hauptstadt ist „liberal“ schließlich ein besonders weit gefasster Begriff

von ROBIN ALEXANDER

Die Botschaft ist rund. Einen Radius von mehr als einem Meter hat der große gelbe Kreis hinter dem Rednerpult. Darin steht nur: „18“. Auf Parteitagen erwartet man sonst Sprüche wie „Innovation und Gerechtigkeit“ oder „Freiheit statt Sozialismus“. Hier steht „18“. Nur „18“. Sonst nichts. Ist das schon eine politische Aussage? Und ist das hier überhaupt ein richtiger Parteitag? Nun, es gibt einen Kandidaten, der eine Rede halten wird, und einen Parteivorsitzenden, der eine Rede halten wird, und junge Frauen und Männer, die ihre Würde eingetauscht haben gegen ein knallgelbes T-Shirt mit der Aufschrift „Ich will Rex“. So weit alles parteitagsmäßig. Aber wo sind Wortmeldungen, wo die Debatten, wo die Abstimmungen? Fehlanzeige. „Warum machen Sie überhaupt einen Parteitag, wenn doch sowieso schon alles vorher feststeht?“, fragte ein Journalist den Vorsitzenden der Berliner FDP, Günter Rexrodt, als dieser Kandidaten und Programm schon zwei Tage vorher präsentierte. Und Rexrodt antwortete ehrlich: „Das wird ein Feldgottesdienst.“

Zumindest die Spitze der Berliner FDP scheint fröhlich in die „Schlacht um Berlin“ am 21. Oktober zu ziehen. Auf dem Podium lächelt man geradzu verzückt aus dem in dieser Partei üblichen Businesskampfanzug – sieben dunkle Jacketts und ein helles Kostüm –, als der Bundesvorsitzende Guido Westerwelle ausruft, warum es in Berlin für die FDP um mehr geht als nur um irgendeine Landtagswahl: „Ich begrüße den Landesverband, der ganz kurz vor den achtzehn Prozent steht.“

Statt einem Militärseelsorger müsste man Westerwelle, Rexrodt und Co. eigentlich eher die Konsultation eines Arztes empfehlen, der Erfahrung im Behandeln von Wahnvorstellungen hat. Die große runde 18 wird hier nämlich von einer Partei eingefordert, die bei der letzten Wahl – kurze zwei Jahre ist das her – mit lächerlichen 2,2 Prozent der Stimmen noch schlechter als die rechtsradikalen „Republikaner“ abgeschnitten hat.

Hier spekuliert ein Landesverband auf zwei oder drei Senatorenposten, der vor einem halben Jahr nicht einmal die Ressourcen hatte, einen eigenen Pressesprecher zu beschäftigen. Wer Zahlen und Fakten bei Lichte besieht, muss unweigerlich zu dem Schluss kommen: Ein Scherz das Ganze, eine köstliche satirische Inszenierung mit dem 18-Prozent-Ziel als überzogener Pointe. Aber das hier ist Politik, und da geht es nicht um Zahlen und Fakten, sondern um Stimmungen. „Der Trend ist entscheidend“, ruft Guido Westerwelle später in den Saal, „und der Trend geht steil nach oben!“

In der Tat: Der Aufschwung, den die bereits totgesagte FDP in ganz Deutschland genommen hat, war nirgendwo so drastisch wie in Berlin. Im Mai wollten dort laut Forsa 3 Prozent für die FDP stimmen, im Juni 7 und im August schon 10 Prozent. Tendenz steigend. „Dabei zeigen alle Analysen, die wir kennen, dass ihr eigentlicher Wählerstamm die FDP zumindest in Berlin nicht über fünf Prozent bringen kann“, sagt Oskar Niedermayer von der Freien Universität Berlin. Der Parteienforscher erklärt den Erfolg: „Ohne den Skandal bei der Berliner Bankgesellschaft und ohne die PDS-Diskussion wäre die FDP nach wie vor bei zwei Prozent.“

Das ist die Klaviatur – und so klingt sie: „Wer hat denn immer gesagt: ‚Vergiss die FDP‘?“, erinnert Rexrodt: „Der Landowsky.“ Dabei ist der christdemokratische Oberbanker längst geschasst. „Wir sind die einzige Chance, eine Konstellation mit der PDS zu verhindern.“

Dabei hat doch Rexrodt die Schmuddel-PDS unerwartet aufgewertet, als er sich in eine Volksbegehren-Initiative zur Ablösung der großen Koalition drängte. Das kostete Rexrodt nur einen viel fotografierten Händedruck mit Gregor Gysi. Die Dummen waren die Grünen: Nun macht ihnen die FDP die Rolle als Antifilzpartei streitig, ohne einen einzigen Abgeordneten im Untersuchungsausschuss zur Bankgesellschaft zu stellen.

Günstiger als in Berlin könnten die Ausgangsbedingungen für die FDP kaum sein. Berlin ist der Elchtest für das Projekt 18, das Jürgen W. Möllemann einer zögernden Parteiführung untergeschoben hat. Der Marketingerfolg droht zur kontraproduktiven Lachnummer umzukippen, gibt es an der Spree nicht wieder spektakulären Erfolg. Entscheidend sei „ein klares liberales Profil“, schärft Guido Westerwelle „diese Geisteshaltung der Parteiführung“ auch den staunenden Berliner Freunden ein. Das Eigene. Das Unverwechselbare. Unser liberales Profil.

Dabei zeigt sich gerade in Berlin, dass liberal das wohl bedeutungsoffenste Adjektiv der deutschen Sprache ist. Seit sie wieder Erfolge verspricht, gewinnt die FDP täglich neue Freunde. Da ist etwa Gertrud Höhler, eine Konservative, die sonst die CDU berät. Der geht es allerdings zurzeit nicht so gut. Deshalb ist Höhler jetzt in einer „Liberalen Initiative“ engagiert und träumt von der „Power, die die FDP in den Siebzigerjahren mal in Bildung und Wissenschaft gebracht hat“. Ein Senatorenamt möchte sie für sich nicht ausschließen.

Als „Beauftragte für die Innere Einheit“ auf FDP-Ticket sieht sich schon eine andere neue Unterstützerin: Bärbel Bohley. Die kleine Frau mit der anstrengenden Stimme, die 1990 mit dem Neuen Forum für „eine andere DDR“ kämpfte, wird auf dem Landesparteitag neben einem Architekten und einer Unternehmerin des Jahres auf der Bühne präsentiert: „Ich habe mich gewundert, dass hier so viele Leute sind“, sagt sie ins Mikrofon: „Ich dachte, ihr seid viel weniger.“

Warum lässt sie sich hier einspannen, zwischen Rexrodt-Rede und Ehrungen für fünfzigjährige Parteimitgliedschaft? „Ich kenne die SED-PDS seit vierzig Jahren, die dürfen nicht wieder regieren.“ Ist das schon ein Argument für die FDP? „Die FDP ist immerhin keine Kaderpartei wie die SED-PDS.“ Bohley, die einst im Stasi-Knast von Berlin-Hohenschönhausen ihren Schergen Rechtsstaatlichkeit zollweise abtrotzte, sieht allerdings milde verzweifelt aus, als Rexrodt unter tosendem Applaus ruft: „Wer künstlich einen Stau erzeugt – und das gibt es in dieser Stadt –, der begeht vorsätzliche Freiheitsberaubung!“

Auch andere beginnen zu begreifen, dass man sich selbst eine Partei mit so wenig Substanz wie die FDP nicht so einfach nach seinen Vorstellungen formen kann. „Meine Leistung wurde hier nicht honoriert“, klagt Sophie-Charlotte Lenski. Die 22-Jährige mit dem blonden Pferdeschwanz war bis vor einer Woche Bezirksvorsitzende der FDP in Tempelhof-Schöneberg und eine Hoffnungsträgerin der Partei. Der Spiegel druckte das Foto der sehr jugendlich aussehenden Frau, die 1997 als Studentin mit dem Projekt Absolute Mehrheit (PAM), die FDP „kapern“ wollte. Die FAZ porträtierte Lenski begeistert: „Von dieser Spezies könnte die FDP sicher mehr als eine Abgeordnete gebrauchen.“

Es wird noch nicht mal eine. In der vergangenen Woche warf Lenski das Handtuch: Die Delegierten sahen Jugend, Weiblichkeit und Medienpräsenz nicht als ausreichenden Grund für eine Nominierung für das Abgeordnetenhaus. Lenski glaubt nicht mehr an den großen Aufbruch der FDP: „Wir können froh sein, wenn wir im Oktober sechs oder sieben Prozent kriegen.“ Während Lenski im Foyer tapfer Schulterklopfen und andere Beileidsbekundungen entgegennimmt, präsentiert die Partei im Saal achtzehn – na klar: 18 – Kandidaten, die es auf halbwegs aussichtsreiche Plätze geschafft haben. Ehemalige PAM-Aktivisten: null. Frauen: eine.

„Um das Schlimmste sind wir ja gerade noch herumgekommen“, sagt einer der Kandidaten. Er hat Recht: Da oben im Blitzlicht der Fotografen hätten auch sehr unfotogene Gestalten stehen können. Beinahe hätte eine Truppe selbst ernannter „Nationalliberaler“ einen der Ihren auf FDP-Ticket ins Parlament schicken können. Nur um Haaresbreite entging die FDP dieser Peinlichkeit. Erst am Freitag hob das Landgericht Berlin eine einstweilige Verfügung gegen die Nominierungspraxis der Partei auf. Die Rechtsausleger, seit Jahren in der Berliner FDP verwurzelt, klagen weiter.

Die FDP des Jahres 2001: eine reine Projektionsfläche? Auf jeden Fall widerspruchsvoll wie keine ihrer Konkurentinnen. „Sie werden von der Hamburger Bürgerschaftswahl einen kräftigen Schub bekommen!“, verspricht Westerwelle den Berlinern. In Hamburg tendieren die Liberalen zu einem Rechtsbündnis mit der CDU und dem Law-and-Order-Verein des Richters Schill. In Berlin flirtet man mit einer Ampelkoalition mit der SPD und den in Berlin notorisch linkssentimentalen Grünen. Und das Programm? Für die – natürlich – achtzehn Programmpunkte kann man niemanden verhaften. Nettoneuverschuldung Berlins in fünf Jahren auf null reduzieren? Beim besten Willen unrealistisch. Umwandlung der Freien Universität zur privaten Campus-Uni? Ein konkretes Konzept fehlt noch. Abitur nach 12 Jahren schon ab 2003, obwohl es in Berlin sechs Jahre Grundschule gibt? Schlicht unmöglich. Wenigstens die Aussagen zur Verkehrspolitik sind eindeutig. Gnadenloser Ausbau von allem, was nur entfernt mit Straße zu tun hat.

Die treffendste Definition des Kerns der FDP in den Zeiten von Projekt 18 gibt Guido Westerwelle, der Hauptverantwortliche für den ganzen Zauber, selbst: „Wir sind nicht nur die Partei derjenigen, die es geschafft haben. Wir sind auch die Partei derjenigen, die es noch schaffen wollen.“

An exakt der gleichen Stelle, wo Westerwelle den Ehrgeiz zur Kardinaltugend erhebt, hat Klaus Wowereit vor drei Monaten den Wahlkampf mit seinem Bekenntnis eröffnet: „Ich bin schwul – und das ist auch gut so.“ Dies sei eine Privatangelegenheit des SPD-Regierenden ohne politischen Inhalt, urteilten einige Kritiker. Westerwelle nimmt Wowereits Wort spielerisch auf: „Wir werden Berlin regieren – und das ist gut so.“ Die Botschaft ist rund.