NATIONALE IDENTITÄT IST EIN LINKSLIBERALES WAHLKAMPFTHEMA
: Selbstbewusstsein ist gefragt

Warum diese Angst vor Roland Koch? Der hessische Ministerpräsident trommelt seit einer Woche für einen Bundestagswahlkampf zum Thema nationale Identität. Seine eigene Partei, die CDU, bringt er damit nur mühsam in Schwung – doch umso schriller fallen die Reaktionen beim politischen Gegner aus. Eine schamlose Ankündigung wollte Claudia Roth ausgemacht haben und sprach von brandgefährlicher Politik. Die Grünen-Chefin wird in ihrer Empörung nicht allein bleiben. Es wäre das erste Mal, dass eine Provokation des Roland Koch das linksliberale Establishment dieser Republik nicht in Erregung versetzte. So bahnt sich einmal mehr eine Konfrontation an, in der die eine Seite verzweifelt versucht, eine Debatte zu ersticken, die die andere lustvoll anheizt. So ehrbar der Einsatz der Feuerlöscher ist, die bis zu Paul Spiegel und Heiner Geißler reichen, sie reagieren falsch. Mehr Selbstbewusstsein ist gefragt. Koch will über nationale Identität debattieren? Aber bitte, gern – er wird diese Auseinandersetzung verlieren.

Schon einmal hat sich die halbe Republik von Koch ins Bockshorn jagen lassen. SPD und Grüne versuchten, seine Unterschriftenaktion gegen den Doppelpass abzuwehren – mit dem Hinweis auf die üblen Absichten hinter der Kampagne. Dabei sind Kochs Motive unerheblich – auch in der Debatte um die nationale Identität. Natürlich hat Koch keine diskursive Selbstfindung nach Art evangelischer Akademietagungen im Sinn. Natürlich hofft er, die Union nach rechts zu ziehen. Doch der Streit um nationale Identität ist ein Buhlen um die öffentliche Meinung. Die Konkurrenz gewinnt, wer in den Augen der Deutschen die überzeugendere Antwort gibt auf die Frage: „Wer sind wir eigentlich?“ Wer bereits die Suche nach einer Anwort scheut, hat den Schönheitswettbewerb verloren.

Wer die Debatte um die nationale Identität fürchtet, lebt geistig immer noch in der Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre. Aus dieser Zeit stammt die Angst, wer nicht stramm rechts sei, werde am Ende als vaterlandsloser Geselle dastehen. Dass dieser Ausgang nicht zwangsläufig ist, haben bezeichnenderweise als Erste zwei Politiker erkannt, die von den Reflexen der westdeutschen Linken unberührt sind: die PDS-Ikone Gregor Gysi, weil er Ostdeutscher ist, und FDP-Chef Guido Westerwelle, weil er ein Mann ohne Geschichte ist. Beide begrüßen eine Debatte zur nationalen Identität, denn beide begreifen Kochs Vorschlag als Chance, ihrem eigenen Verständnis eines zeitgemäßen Deutschland zur Mehrheit zu verhelfen.

Wenn sich Kochs Gegner trauen, die Debatte zu führen, wird Koch sie verlieren. Die Union hat schon lange keine mehrheitsfähige Antwort mehr auf die Frage: Wer sind wir Deutschen eigentlich? Die klügeren Köpfe in der CDU, von Angela Merkel bis Peter Müller, ahnen das – und können sich daher für den vermeintlichen Wahlkampfschlager nicht recht begeistern. Nationale Identität definiert sich über Personen, Symbole und Diskurse. In keiner Kategorie erweisen sich die Angebote von CDU und CSU derzeit als konsensfähig. Den Streit über eine deutsche Leitkultur hat die Union ebenso verloren wie den über Joschka Fischers Vergangenheit und das Erbe der 68er. Beim Personal verkörpert Gerhard Schröder mit seinem postideologischen Pragmatismus diese Republik allemal eher als Roland Koch mit seinem Patriotismusmodell aus den 50ern – auch wenn der Hesse es nicht glauben mag. Bei den Symbolen schaut es nicht anders aus: Wenn der Ministerpräsident von Schülern mehr Respekt vor der Fahne und mehr Freude am Deutschlandlied fordert, katapultiert er die Union nur weiter aus dem Mainstream.

Wer sind wir eigentlich? Seit Adenauers Zeiten hat die Rechte darauf keine überzeugende Antwort mehr gewusst. Weil die Union die identitätsbildende Zäsur von 68 bis heute nicht begreift, weil ihr auf der Suche nach der Zukunft nur Fahnenappell und Deutschlandlied einfallen, steht sie erstaunlich einsam da. Dabei fehlt es nicht an Versuchen, das neue Deutschland zu beschreiben. Doch „die ironische Republik“, „die Republik auf der Suche“, „die freundliche Nation“ sind Deutschland-Entwürfe, die viel eher liberale Tugenden verkörpern: Nachdenklichkeit, Selbstzweifel, das Bekenntnis zu den Brüchen der eigenen Geschichte aber auch ein spielerischer Umgang mit der Idee der Nation. Für die Union ist mit einem Wahlkampf zur nationalen Identität weniger zu holen, als ihre Gegner fürchten. PATRIK SCHWARZ