: Nationale Identität
Das Schlagloch von MICHAEL RUTSCHKY
In der CDU wächst die Bereitschaft, die „nationale Identität“ zum Thema im Bundestagswahlkampf zu machen. CDU-Chefin Angela Merkel sagte, dies sei kein rechtes Thema, sondern eins, das die Menschen interessiere. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) bekräftigte seine Forderung, die „nationale Identität“ müsse neben der Wirtschaftspolitik das zentrale Thema der Union sein. („Süddeutsche Zeitung“, 10. 9. 2001)
Letzte Woche war ich für vier Tage in Slowenien; ein literarisches Festival. „Ach, Slowenien“, zögerte die Kollegin B., die ich beim Umsteigen zufällig auf dem Flughafen München traf, „das hat doch als Hauptstadt Bratislava?“
Nö, Ljubljana (auf Österreichisch: Laibach). Bratislava (auf Österreichisch: Preßburg) ist die Hauptstadt der Slowakei. Hier können die beiden baumlangen, wie man sagt, African Americans auftreten, die ich auf dem Flughafen Triest belauschte: „Slovakia or Slovenia“, witzelten sie, „I don’t care.“
Wenn man das einem Slowenen oder Slowaken erzählte, wäre er gekränkt. Seine nationale Identität ist von außen unsichtbar, wobei die räumliche Entfernung – BRD oder USA – ohne Bedeutung bleibt. Macht nichts!, könnte der Slowene oder Slowake trotzen, die Hauptsache ist doch, dass ich selbst ihrer gewiss bin, meiner nationalen Identität.
Damit sitzt er freilich erst recht in der Tinte. Wie der junge Mensch akut, der ältere aus der Erinnerung weiß, erzeugt die Frage nach der persönlichen Identität auf Anhieb die schärfste Verzweiflung. Wer bin ich? Die Antwort sollte ein ruhiges und sicheres Selbstgefühl ergeben – in Wahrheit entsteht eine Art Maelstrom, der unwiderstehlich in die Tiefe zieht; an keiner Zwischenantwort kannst du dich festhalten. Der Gymnasiast, der sich eben noch als Dichter erkannte, begeistert sich heute für Physik und weiß morgen mit absoluter Gewissheit, dass er sein Leben als DJ verbringen möchte.
Leichter geht’s, wenn man die eigene Identität in Differenz zu anderen bestimmt. So will der junge Mensch meist keinesfalls wie seine Eltern sein, und auch die Slowenen und Slowaken haben ihre nationale Identität vor allem durch Unterscheidung gewonnen. So wollten die Slowaken keinesfalls mit den Tschechen verwechselt werden. Obwohl die slowakische Sprache sich von der tschechischen anscheinend so deutlich unterscheidet wie der nordhessische Dialekt vom südhessischen, wurden nach der Trennung tschechische Filme mit slowakischen Untertiteln versehen, was das Publikum erheiterte.
Was Slowenien anbelangt, so schuf es sich seine nationale Identität durch Unterscheidung von der jugoslawischen. Verglichen mit Kroatien und Bosnien-Herzegowina verließ es den Bundesstaat so gut wie friedlich. „Eine Nation, die 1.000 Jahre im Schlaf lag, erwacht!“, zitierte auf jenem Festival ein slowenischer Intellektueller nicht ohne Ironie – die Peinlichkeitsgefühle abdeckte – die Parole, die vor zehn Jahren befeuerte. Die nationale Semantik, fügte er entschuldigend hinzu, war eben die einzige, die nach dem Untergang des Sozialismus politisch zur Verfügung stand; ins Habsburg-Imperium zurückzukehren, war zu fordern ja unmöglich. Will sagen: Im Innern kommt der frisch erfundene Staat ganz gut ohne drakonische Anwendung dieser Semantik aus; die italienischen und ungarischen Minderheiten dürfen die ihre als offizielle Landessprache verwenden; das Schweizer Modell, wenn ich richtig verstanden habe.
Jenes Literaturfestival begann schon unterm Sozialismus stattzufinden und betont stolz seine Internationalität. Während in der Dorfkirche eine ukrainische Dichterin zum Mikrofon schritt, plauderte ich flüsternd mit einem Australier. Die Lesungen zeichnen sich durch eine schöne Unverständlichkeit aus. Nicht nur, dass mir ein kompliziertes Gedicht auf Englisch, das ich kann, beim einfachen Zuhören entgeht; viele Gedichte wurden von ihren Dichtern in Sprachen vorgetragen, die mir vollkommen unbekannt sind, und auf Übersetzung wurde oft verzichtet. Friedlich lehnte man sich in seinem Sitz zurück – neben der Dorfkirche ist der Hotelinnenhof, ein Burgplatz und eine monumentale Tropfsteinhöhle zu erwähnen –, friedlich lauschte man den unbekannten Lauten, wie sie stets wohl geordnet daherkamen. Der Verstehenszwang war aufgehoben, was der Völkerverständigung diente.
Dabei bildete die slowenische Sprache und ihre Reinerhaltung, wie mir eine Literaturprofessorin erzählte, lange Zeit das Zentrum der Literatur Sloweniens, das mal zu Habsburg, mal zu Frankreich, mal zu Italien, jetzt zu Jugoslawien rechnete. Ernest Gellner, ein anglo-tschechischer Sozialtheoretiker, beschrieb das als musterhaft für den Nationalismus und die Nationalstaatsbildung. Städtische Intellektuelle entdecken die Volkssprache und widmen sich ihrer Kultivierung. Die nationale Identität verdankt sich der Intelligenzija und ihren Klügeleien, keiner blutmäßigen Aufwallung.
Besonders gefiel mir, was die Literaturprofessorin zur Erweiterung des Mechanismus zu erzählen wusste. Ihresgleichen begann die ländlichen Gegenden Sloweniens als Tourist zu bereisen; Bauernhöfe bieten Fremdenzimmer und Verpflegung an, die sich darüber natürlich verfeinert. Das gilt auch für die Winzer, die Obst- und Fleischproduzenten, bei denen die Städter traditionelle Spezialitäten erwerben. Das Traditionsgut wird gewissermaßen in die kulturelle Evolution eingefüttert. Das Eisbein, das der erschöpfte und kalorienbedürftige Landmann verzehrt, verändert sich unweigerlich, wenn es dem Literaturprofessor aus der Stadt schmecken soll.
Immer noch innerhalb dieses Mechanismus funktioniert – wie mir die Literaturprofessorin erklärte – auch der Denkmalschutz. Schön auf den Hügeln des Karst sitzende Dörfer entleert zwar die Landflucht der Jungen von ihrer Urbevölkerung. Dafür entdecken die Städter sie als touristische Attraktionen, und bald bilden sich Initiativen, die Geld für Restaurierung und Erhalt organisieren und schön gestaltete Broschüren veröffentlichen, die dem Reisenden durch den notwendigen Kommentar die Sehenswürdigkeiten aufschließen. Mir war unbekannt, dass Otto Wagner, bedeutender Architekt der Wiener Moderne, aus Slowenien stammt, und dass er einen Kollegen in Max Fabiani hatte, der in den großen Städten des Imperiums gebaut, aber auch die Burg des Städtchens Štanjel als Wohnung für seine Schwester umgestaltet hat. Will sagen, der Nationalismus geht friedlich und anmutig in Konsumismus über.
Warum erzähle ich das alles? Weil es dem Intellektuellen imponiert, wie Slowenien – wenn ich richtig verstanden habe – bei seiner Selbsterfindung als Nationalstaat vor zehn Jahren zwar die Mechanismen des Nationalismus applizierte; wie es diese Mechanismen aber bald abschwächen und zähmen und interessant umbilden konnte.
Da wird also ein rechter Quatsch auf uns zukommen, wenn Herr Koch und die Seinen unsere nationale Identität im Wahlkampf herausstellen. Gründlich werden sie die Intelligenzija beleidigen. Three cheers to Slovenia!
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