Kein Wort über Konsequenzen

Das politische Leben in Berlin stand gestern still. Die Etatberatungen wurden unterbrochen, Gartenfeste abgesagt. Stattdessen tagte der Sicherheitsrat

aus Berlin JENS KÖNIG
,PATRIK SCHWARZ
und SEVERIN WEILAND

Die Fahnenständer im Foyer des Bundeskanzleramtes sind leer. Je ein goldener Ständer steht links und rechts von dem bundesblauen Podest, an das Gerhard Schröder gleich treten wird. Doch vor dem Kanzler erscheint eine kleine Truppe in Arbeitshosen. In einer seltsamen Mischung aus Unbeholfenheit und bemühter Feierlichkeit tragen die Männer zwei Deutschlandfahnen herein. An beiden hängt ein schwarzer Streifen – Trauerflor.

„Dies ist eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“, sagt Gerhard Schröder. Er steht aufrechter als sonst, beherrschter. Und er trägt seine Brille, wie immer, wenn es ihm ernst ist mit einer Botschaft. Seine Erklärung fällt kurz aus, kaum mehr als zehn Sätze. Das Wort von der Kriegserklärung ist ungewöhnlich genug. Wer hinter den Anschlägen stecken könnte, ist zu diesem Zeitpunkt völlig ungewiss. Oder weiß Schröder mehr? „Wer diesen Terroristen hilft oder sie schützt, verstößt gegen alle fundamentalen Werte, die das Zusammenleben der Völker möglich machen“, sagt der Kanzler, der gerade eine Sitzung des Bundessicherheitsrats hinter sich hat. Es folgen noch einige Worte der Solidarität mit den USA, dann wendet Gerhard Schröder sich zum Gehen. Keiner der vielleicht hundert Journalisten durchbricht die Stille mit einer Frage. Begleitet von seinem außenpolitischen Berater Michael Steiner und Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye geht er zum Aufzug, der ihn zurück in die so genannte Leitungsebene des Kanzleramts fährt.

Schröders Auftritt ist mindestens so bemerkenswert wegen dem, was er nicht sagt, wie wegen dem, was er sagt. Er verliert kein Wort zu möglichen Konsequenzen, aber auch Gefährdungen für die Bundesrepublik. Womöglich will er den Ausdruck der Betroffenheit und der Solidarität mit den USA nicht schmälern. Aus Schröders Büro verlautet, seine Rede zur Eröffnung der Internationalen Automobil-Ausstellung am Donnerstag ist ebenso abgesagt wie seine Teilnahme am Gipfel „Modernes Regieren“ am Freitag und Samstag in Stockholm.

Die Nachricht vom Terroranschlag erreichte Gerhard Schröder am Nachmittag, als er in seinem Büro saß. Der Schock und die Fassungslosigkeit, die sie bei ihm auslöste, war ihm Stunden später noch anzusehen. Schröder rief seine Mitarbeiter zusammen. Am frühen Abend dann trat der Bundessicherheitsrat zusammen, an dessen Sitzung neben dem Kanzler unter anderem Außenminister Joschka Fischer, Innenminister Otto Schily und Verteidigungsminister Rudolf Scharping teilnahmen. Über die Ergebnisse dieser geheimen Sitzung war nichts zu erfahren. Ein Mitarbeiter des Kanzleramtes sagte lediglich, dass Vertreter der Geheimdienste an der Sitzung nicht teilgenommen haben. Die Zusammenkunft soll knapp eine Stunde gedauert haben.

Im Auswärtigen Amt und im Innenministerium sind Krisenstäbe eingerichtet worden. Sie koordinierten ihre Arbeit mit dem Lagezentrums des Bundeskanzleramtes, das jeden Tag 24 Stunden im Einsatz ist. Gegen 20 Uhr informierte der Bundeskanzler die Fraktionschefs aller im Bundestag vertretenen Parteien über die Lage.

Die Politiker aller Bundestagsparteien standen gestern unter Schock. In ersten Stellungnahmen drückten sie ihre Bestürzung über den Terroranschlag aus und trauerten um die Toten. Die Fraktionen aller Parteien traten zu Sondersitzungen zusammen. Die restlichen Bundestagssitzungen dieser Woche wurde abgesagt. Die Anträge zu den Einzelposten des gerade in erster Lesung beratenen Bundeshaushalts für 2002 sollen schriftlich eingereicht und an die Ausschüsse überwiesen werden. Heute morgen 9.00 Uhr wird der Bundeskanzler eine Regierungserklärung abgeben. Eine Stunde später tritt erneut der Bundessicherheitsrat zusammen.

Das gesamte parlamentarische Leben in Berlin war paralysiert. Grüne und FDP hatten für den gestrigen Abend ursprünglich zu Sommerfesten geladen. Sie wurden ebenso abgesagt wie ein von der CSU vorgesehener „Berliner Auftakt des Münchener Oktoberfestes“. Auch einzelne Abgeordnete, wie der SPD-Parlamentarier Frank Hofmann, sagten geplante Hintergrundgespräche ab.

Überall im Regierungsviertel saßen Journalisten vor den Fernsehgeräten, wurden hektische Gespräche mit den Zentralen geführt, erste Planungen für Seitenumstellungen vorgenommen. Die beiden zentralen Themen des Tages – die Etatdebatte und der zweite Auftritt Rudolf Scharpings im Verteidigungsausschuss – waren plötzlich völlig unwichtig. Der Bundestag, der am Vormittag mit der Rede des Finanzministers Hans Eichel die Etatberatungen 2002 begonnen hatte, unterbrach kurz nach 15 Uhr seine Sitzung. Abgeordnete im spärlich besetzten Saal verließen diesen, um sich über Handys und die dort aufgestellten Monitore der TV-Sender zu informieren. Anke Fuchs, Vizepräsidentin des Bundestages, sagte schließlich um kurz nach halb fünf die Sitzung ab. Zu dem, was geschehen sei, würden ihr keine Worte einfallen, erklärte die SPD-Politikerin mit ernstem Gesicht.

Fassungslos reagierte Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig, der sich am späten Nachmittag im Reichstag aufhielt. „Die Welt hat sich verändert“, sagte er. Bodewigs Ministerium, das für die Flugsicherheit zuständig ist, hatte sofort reagiert. Der Abteilungsleiter der Flugsicherheit und sein Stellvertreter begaben sich noch gestern von Bonn nach Berlin. Die in unmittelbarer Nähe des Regierungsviertels gelegene US-Botschaft, ohnehin schon seit Jahren abgesperrt, wurde zusätzlich gesichert. Das Kanzleramt erhielt Sicherheitsstufe 1.