Eine Wand aus Asche und Staub

Als blutüberströmte Menschen in die Seitenstraßen drängen, kommt vom World Trade Center ein Rauschen, das kurze Zeit später zum Donnern wird

aus New York NICOLA LIEBERT

„Independence Day“ ist nicht mehr nur ein Film – die Wirklichkeit hat die Fiktion seit gestern eingeholt. Zunächst konnte es keiner glauben, dass jemand das New Yorker World Trade Center mit entführten Flugzeugen in Brand gesetzt haben sollte. Doch als kurze Zeit später auch das Pentagon in Washington Ziel eines Angriffs wurde und als schließlich weitere Meldungen eintrafen, wonach im Bundesstaat Pennsylvania ein entführtes Flugzeug abgestürzt sei, bestand kein Zweifel mehr: Dies war eine Kriegserklärung an die USA.

Augenzeugen berichteten gegen neun Uhr morgens Ortszeit, dass ein Flugzeug direkt in den einen der beiden „Zwillingstürme“ des World Trade Centers geflogen war. Kurz danach krachte ein weiteres Flugzeug in das zweite Hochhaus. Augenzeugen berichteten, sie hätten Menschen gesehen, die sich aus den Fenstern stürzten oder möglicherweise herausgeschleudert wurden.

Während sich der Finanzdistrikt an der Südspitze Manhattans in eine Fußgängerzone verwandelte, als Schaulustige aus den umliegenden Bürohochhäusern die Straßen füllten und zeitgleich blutüberströmte Opfer vom World Trade Center flohen, kam ein Rauschen vom World Trade Center her. Menschen rannten in Panik fort, als das Rauschen zum Donnern wurde, verfolgt von einer grauen Wand aus Asche, Staub und kleineren Schuttteilen. Dann wurde es dunkel und vollkommen still in den Seitenstraßen, in die sich die Leute retten konnten. Niemand schrie, da alle die Luft zum Atmen brauchten. Als sich die Wolken langsam setzten, hatte sich die berühmte Skyline von Manhattan gründlich verändert: Die beiden Gebäude, die einmal die höchsten der Welt gewesen waren, waren verschwunden.

Eine Fernsehreporterin meinte zunächst noch, eines der wichtigsten Probleme seien die ökonomischen Verluste durch den ausgefallenen Flugverkehr und durch die Schließung der Börse. Andere erklärten entrüstet, es sei „verboten“, entführte Flugzeuge zu Anschlägen zu benutzen. Das Ausmaß und der Ernst der Lage wurden erst langsam klar.

Der erste Verdacht ging sofort in Richtung Naher Osten, und Reporter wurden in die Westbank entsandt. Doch niemand bekannte sich zu den Anschlägen. Erst danach begann der Name Ussama Bin Laden zu kursieren. Viel später erst erinnerte man sich daran, dass der bislang schlimmste terroristische Anschlag in den USA – der Bombenangriff auf das Verwaltungsgebäude in Oklahoma City 1993 – vom Amerikaner Timothy McVeigh begangen worden war.

Das World Trade Center war schon einmal, im Jahre 1993, Ziel eines Anschlags. Damals hatten islamische Fundamentalisten, hinter denen nach Vermutungen der US-Behörden möglicherweise auch Ussama Bin Laden stand, eine Bombe in der Tiefgarage gezündet. Die konnte allerdings die Struktur des Gebäudes nicht beschädigen.

In New York waren gestern auch die U-Bahn sowie alle Brücken und Tunnel gesperrt. In den U-Bahn-Bahnhöfen drohte Panik, als die Ansage kam: „Aufgrund einer polizeilichen Anordnung, wonach ein terroristischer Anschlag untersucht wird, wurde der gesamte Betrieb eingestellt. Bitte verlassen Sie den Bahnhof.“ An den gesperrten Brücken standen weinende Menschen, die nach Manhattan wollten. Eine Passantin schluchzte: „Mein Cousin arbeitet im 47. Stock des World Trade Centers. Ich weiß nicht, wo er ist. Es ist der pure Horror.“ Ein Mann sagte fassungslos: „Das ist der Krieg. So habe ich mir den Krieg immer vorgestellt.“ Mitarbeit: DAVID SCHRAVEN