„Verdammte, grausame Welt“

Blumen, Briefe, Tränen: Menschen trafen sich gestern am US-amerikanischen Konsulat und teilten Trauer, Ratlosigkeit und Angst  ■ Von Sandra Wilsdorf

Der Tag danach: „Warum?“ hat jemand auf einen Zettel geschrieben und damit die ganze Fassungslosigkeit ausgedrückt, die gestern Hunderte von HamburgerInnen zum amerikanischen Generalkonsulat trieb. Es sind Schulklassen, für die es im Unterricht nur ein Thema gab, es sind Paare, Familien, Einzelpersonen. Sie bringen Blumen, zünden Kerzen an, und viele legen Zettel an die Gitter des abgesperrten Konsulats, das heute von noch mehr PolizistInnen als sonst und gepanzerten Sonderwagen bewacht wird. „Mein Verstand kann es nicht begreifen und möchte es nicht wahrhaben. Mein Herz trauert mit Amerika“, schreibt eine Frau. Ihre Tochter ist nach zwölf Monaten New York erst vor kurzem zurückgekehrt, „vor genau einem Jahr waren wir noch auf dem World Trade Center“, erzählt sie mit Tränen in den Augen. Die Klasse 5c des Wilhelm Gymnasiums hat Bilder gemalt: Herzen und Menschen, Menschen und die amerikanische Flagge. „Ihr tut mir leid“ und „wir denken an Euch“.

Es kommen immer mehr Menschen, viele weinen, Stille lastet auf ihnen. Einer sagt, „dafür gibt es keine Worte“ und sucht sie doch, will seine Sprachlosigkeit teilen.

Eine Gruppe Jugendlicher drapiert Kerzen und Rosen um den gemeinsamen Brief und betet ein Vaterunser. „Beten ist eigentlich nicht so mein Ding“, sagt einer und macht dann doch mit. Stimmen brechen, Tränen unterbrechen das Gebet. Ein Spaziergänger mit Zeitung unterm Arm geht in die Knie und faltet die Hände. Jemand hat einen Teddy in das Blumenmeer gesetzt, der trägt ein Schild um den Hals „For the children who lost a parent to hug“ („Für die Kinder, die Eltern zum Umarmen verloren“).

Neben Trauer äußern viele Menschen auch ihre Angst vor dem, was da noch kommen kann. „Sucht die Antwort nicht in Gewalt, benutzt Eure guten Kräfte, bleibt Mensch“, appelliert jemand, die Schule H13 weiß, „Gewalt ist keine Lösung“, und ein vermutlich sehr kleines Kind hat ein Pony gemalt und ein Hufeisen: „Viel Glück“ steht darüber.

Auf einigen Zetteln ist die Schrift schon nicht mehr zu lesen. Es war wohl der Regen, der sie weg geweint hat, die ersten Wünsche vom Abend des Katastrophentages. Jemand zitiert Jonathan Swift: „Wir haben gerade Religion genug, um einander zu hassen, aber nicht genug, um einander zu lieben.“

Eine, die das täglich erlebt, ist zum Beten in die Moschee an der Außenalster gekommen. Sie will erst nicht über die Ereignisse in New York reden, so wie eigentlich niemand hier. Aber dann erzählt sie „von dem Schock, unter dem wir alle stehen“. Und davon, dass sie nur die nötigsten Wege macht, „mir ist schon klar, dass ich jetzt vielleicht angegriffen werde, aber so lange es nur verbal ist, kann ich das akzeptieren“. Die junge Frau im Tschador hat das Gefühl, als wären die Blicke heute anders als sonst. Dunkler.

Während die Sicherheitsvorkehrungen an der Moschee nicht verstärkt wurden, ist an der jüdischen Synagoge im Moorkamp ein Polizeiwagen postiert. Der Kindergarten fällt aus, es ist sehr ruhig hier.

Derweil reißt der Strom der Anteilnehmenden am Konsulat nicht ab. Es ist Mittag geworden, und viele Menschen in Anzügen und Kostümen haben in der Mittagspause Blumen gekauft und legen sie nieder, kommen für einen Moment der Stille und der Trauer. Ein älterer Herr im Anzug nähert sich energischen Schrittes mit einem Strauß Rosen in der Hand. Als er die Menschen sieht, die Blumen, die Kerzen, schießen ihm die Tränen in die Augen. Eine Oma erklärt ihrem Enkel, warum man Kränze verschenkt und nicht für sich selber behält. Immer mehr Kerzen kämpfen gegen den Wind. „Verdammte grausame Welt“, hat einer aufgeschrieben. Und die Sonne strahlt, als wüsste sie von nichts. So wie Dienstagmorgen in New York.