Andere Dimensionen

Wie deplatziert und gespenstisch Konzerte und Lesungen plötzlich sein können

Vor dem Konzert der britischen Band Radiohead geht rund um die Wuhlheide alles seinen typischen Gang: hohes Verkehrsaufkommen, viele Leute auf den vielen Parkwegen zur Freiluftbühne, Gedrängel am Einlass, 10.000 Leute, wie dpa weiß. Kann man unter dem Eindruck der Bilder, die man gesehen hat, eigentlich auf ein Konzert gehen? Dann der Gedanke, wie abgestumpft man doch ist, was die Intifada, Israel und die Palästinenser anbetrifft. Seit Jahren Bilder, die nicht wirklich ankommen. Sophia, die in Chile geboren ist, sagt, dass am 11. September 1973 der Putsch gegen Allende in Chile gewesen sei. Ja, aber. Die Dimensionen sind jetzt andere.

Radiohead beginnen ihre Show, als sei nichts passiert. Nach mehreren Songs sagt Sänger Thom Yorke, es gäbe absolut nichts zu diesem verdammten Tag zu sagen. Ein Song über den Regen, noch zwei Songs. Aber so ganz wortlos geht es doch nicht. Radiohead stellen schließlich ans Publikum die Frage, ob es überhaupt wisse, was heute passiert sei? Die Parkbühne Wuhlheide scheint nicht der richtige Ort, um die Ereignisse zu kommunizieren. Thom Yorke zählt zusammen mit einem Mitspieler die Absturzstellen der Flugzeuge auf, sagt, dass ihm das alles an die Nieren gehe, und Radiohead spielen „Paranoid Android“. Am Ende widmen sie noch einen Song der Bush-Administration. Wie immer das gemeint ist.

Auch Shellac spielen an diesem Abend im Maria. Die Konzertagentur hat es ihnen freigestellt, zu spielen. Die Bandmitglieder sind fassungslos, versuchen vergeblich Familienmitglieder in New York zu erreichen. Nach einer längeren Diskussion kommen sie überein, dass ein Konzertabbruch nichts an den Ereignissen verändern könnte. Im Maria ist die Stimmung gedrückt, ein Teil des Publikums verfolgt die Ereignisse in New York an den im ersten Stock des Marias aufgestellten Fernsehern.

Die Alte Kantine in der Kulturbrauerei ist voll. Aufs Podium begibt sich ein Lektor des Carl Hanser Verlags. Mit befremdlich pastoralem Pathos in der Stimme übt er sich im Betroffenheitsjargon und entschuldigt sich förmlich dafür, dass diese Lesung nun also trotz allem und nach langem Ringen und nur aufgrund des großen Publikumsinteresses stattfindet. Wenige Stunden nach diesem unvorstellbaren Terroranschlag vier Autorinnen darum zu bitten, ihre Geschichten über Eifersucht zu lesen, wirkt deplatziert. Noch deplatzierter ist, es nicht bei der Unvorstellbarkeit zu belassen, sondern Ergriffenheit zu simulieren. Diese Irrationalität der Bilder vom Weltuntergang, die man über Hollywood längst verinnerlicht hat, können einfach nicht so schnell ins Bewusstsein dringen. Alles andere wirkt unglaubwürdig. Als Erstes betritt Alexa Hennig von Lange die Bühne, auch ihr ist es nicht zu blöd, ihre Stimme zittern zu lassen und zu sagen, dass es wichtig sei, nett zueinander zu sein und Vertrauen zu haben. Mit der Babystimme einer Märchentante liest sie ihren Text vor, der früher in der Jugendbuchreihe von Rotfuchs erschienen wäre. Der Abend gerät in endgültige Schräglage, als sich ein Mann mit einem großen Tetrapack Saft, fettigen Haaren und fleckigem Parka einen Platz sucht, sich wiederholt woanders hinsetzt und fortan die pubertäre Geschichte von Langes von einer Teenagerliebe mit beinahe tragischem Ausgang kommentiert: Bei einer Stelle mit Vogelgezwitscher pfeift er fröhlich, bei einer, wo es um den Selbstmord Kurt Cobains geht, holt er eine Spielzeugpistole aus seiner Einkaufstüte und wird daraufhin leider rausgeschmissen. Von da an verläuft der Abend normal, aber gedämpft. Die vier folgenden Autorinnen lesen kommentarlos ihre Geschichten und verlassen nach getaner Arbeit kommentarlos die Bühne. Danach strömen alle wieder nach Hause und an ihre Fernseher.

Viva hat sein Programm auf beiden Kanälen ausgesetzt. MTV sendet weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Auf RTL zeigen sie Kiew gegen Dortmund. Erst am nächsten Tag auf MTV der Hinweis, dass es keine speziellen Sendungen gäbe. Clips aber sehr wohl. Die Agenturen melden, dass die Berliner Tankstellen einen erhöhten Kundenandrang verzeichnet hätten. Die Berliner Autofahrer haben eben auch ihre Sorgen. GBA/SM