„Jetzt habe ich wieder Angst“

Die Amerikaner in Berlin suchen nach Orten für ihre Trauer. Vor der Botschaft Unter den Linden, vor dem Konsulat in Zehlendorf, vor dem heimischen Fernseher oder an der Bar einer Kreuzberger Kneipe. Auch Palästinenser zeigen offen Solidarität

von HEIKE KLEFFNER

Den Besuch bei ihrem Vater in North-Carolina wird Jessica in diesen Herbstferien wohl verschieben. Dass das Leben so „einfach weitergeht wie geplant“, kann sich die 15-jährige Schülerin der deutsch-amerikanischen John-F.-Kennedy Schule nicht vorstellen. „Um irgendetwas zu tun“, ist sie gestern mit ihren Freundinnen zum US-amerikanische Konsulat in Zehlendorf gelaufen. Dort hängt noch die Bronzeplakette „Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika“ aus der Zeit, als in Zehlendorf jede Menge amerikanische GIs stationiert waren und die USA unantastbar schienen. Jetzt stapeln sich hier Blumensträuße der gehobenen Preisklasse.

Zwei Polizisten tragen ihre Maschinenpistolen zur Schau. In dem Wachhäuschen, wo sich heute jeder Besucher anmelden muss, schiebt Ralph S. Dienst. Vor knapp zehn Jahren kam er als 19-jähriger GI nach Europa. Seine Analyse nach fast zehn Jahren in Europa: „Amerika ist der weltweite Sündenbock für alle“. Der 32-Jährige ist ein bisschen überrascht über die vielen deutschen Schulklassen, die zum Konsulat kommen. „Eigentlich hatte ich immer das Gefühl, die meisten Deutschen mögen uns nicht wirklich.“ Zwei Mal hat er in den letzten zehn Jahren Dienst „for my country“ Angst verspürt, lässt er sich noch entlocken, bevor der gestrenge Blick seines Vorgesetzten ihn verstummen und zur Dienstpistole greifen lässt. Und jetzt? „Jetzt habe ich wieder Angst.“

Ein paar Schritte erzählt die 15-jährige Breann, dass ihr Tag an der 1960 gegründeten John-F.Kennedy-Schule mit einer Vollversammlung und einer Ansprache des Rektors begonnen hatte. Es ginge darum, „gemeinsam zu trauern, Solidarität und Zusammenhalt zu zeigen“, sagte Rektor Ulrich Schürmann. Breann und ihre Freundinnen sind hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, in Deutschland in Sicherheit zu sein, wie sie meinen, und dem Wunsch, nach „Hause“ zu gehen - dorthin, wo sie meinen, dass ihre Hilfe gebraucht würde. Sie behelfen sich mit dem, was alle tun: Fernsehen gucken, SMS schicken, und mit Handies die überlasteteten Telefonsysteme zu überlisten.

Noch immer lebt der größte Teil der rund 10.000 US-Amerikaner in Berlin größtenteils in Zehlendorf und Dahlem. Künstler und Intellektuelle hat es dagegen schon zu Mauerzeiten mehr nach Kreuzberg verschlagen, so wie Zam, der Komponist aus Los Angeles, der seit 14 Jahren in Berlin lebt. Vorgestern nacht saß Zam, anstatt ein Jazzkonzert zu geben, in einer Kreuzberger Kneipe und betrank sich systematisch: Nur ein paar Stunden zuvor war es ihm endlich gelungen, seine Tochter zu erreichen, die in Manhatten aufs College geht. Mit seinen langen Haaren, seinen unkonventionellen Meinungen und seiner Herkunft aus dem Chicano-Barrio von East Los Angeles, ist er sicherlich keine Verkörperung dessen, was US-Präsident Georg Bush für „den Average American“ halten würde. Aus seiner Abneigung gegen Bush macht Zam auch keinen Hehl: „Trotzdem hat er in seiner Regierungsansprache des Richtige gesagt, nämlich dass die Täter bestraft werden müssen,“ sagt Zam. Dem 45-jährigen ist es wichtig zu betonen, dass er Angst vor einem „Witchhunt, einer Hexenjagd auf amerikaner arabischer Herkunft und Palästinenser in den USA.“

Viele der rund 25.000 amerikanischen Touristen in Berlin zieht es dagegen so wie die RentnerInnen aus Iowa zum Brandenburger Tor. „Hilflos und wie vor den Kopf geschlagen“, seien sie heute durch Berlin gelaufen, sagt die 56-jährige Sue. Gestern abend hatte ihre Reisegruppe nach dem gemeinsamen Fernsehen im Hotel eine halbe Stunde zusammen gebetet und alte Gospel gesungen.

Für die beiden New Yorker Investmentbanker Gianfranco und Brian, die heute morgen aus London nach Berlin geflogen sind, ist „Zeit normalerweise Geld“, wie der 41-jährige Gianfranco leicht ironisch meint. Am Dienstagabend haben die beiden noch mit Kunden in einem Londoner Nobelrestaurant gespeist. Als die Nachricht von dem Angriff kam, sei allen der Bissen im Hals stecken geblieben, sagt Brian. Leise berichtet er von den Kollegen, die in einer Filiale seiner Bank auf der Rückseite eines der Türme des World Trade Centers gearbeitet haben und jetzt verschollen sind. Fragen nach ihrer Einschätzung der Konsquenzen für die internationalen Finanzmärkte bügeln die beiden Profis ab. „Heute trauern wir einfach um die Menschen.“ Dann verschwinden Brian und Gianfranco durch die Drehtür des Adlon Hotels, wo das leise Klirren von dünnen Teetassen und Cognacgläsern in der Empfangshalle und das Stimmengewirr noch gedämpfter als sonst scheint.

Zur amerikanischen Botschaft, die ein paar hundert Meter entfernt vom Adlon in den letzten 48 Stunden der Ort gemeinsamer Trauer und Betroffenheit für US-Amerikaner und Berliner geworden ist, wollen sie nicht gehen. Dort steht nachmittags der 29-jährige Deutsch-Palästinenser Mohammed I. mit seiner schwangeren Frau, ein paar Freunden und einem Transparent: „Palästina trauert“ haben sie nach einer intensiven Diskussion am Frühstückstisch auf ein Bettlaken gesprüht. Jetzt stehen sie damit seit Stunden vor der Botschaft und werden belagert: Eine Gruppe älterer Herren fragt mehrfach, ob die Botschaft des Transparents „ironisch“ gemeint sei. Schülerinnen halten dagegen, es sei „völlig unmöglich, alle Palästinenser über einen Kamm zu scheren“. Und von US-Amerikanern wie Peter, der vor einem halben Jahr als Kameramann im Nahen Osten war, und eigentlich nur zur Botschaft gekommen ist, um sich in den Trauerbüchern unter dem weißen Zeltdach einzutragen, das seit Mittwoch morgen vor den Polieziabsperrungen aufgebaut wurde, „Ich bin froh, dass diese jungen Palästinenser den Mut haben, hierher zu kommen und unsere Trauer zu teilen“. Dann legt er eine einzelne Rose neben die Kerzen an der Wand und versucht zum x-ten Mal, seinen Bruder in New York zu erreichen.