„Heute sind wir alle Amerikaner“

Nach dem Schock des Angriffs auf die USA: Wie deutsche Politiker versuchen, das Unfassbare in Worte zu fassen, ihr Mitleid, ihre Einsicht und ihre Entschlossenheit zu artikulieren

BERLIN taz ■ Was sagt man, wenn man nicht weiß, was man sagen soll? Was sagen Politiker, die an normalen Tagen über alles und nichts reden und sich einem Ereignis gegenübersehen, für das sie keine Worte finden?

Rezzo Schlauch zuckt mit den Schultern. Ein Reporter will vom Fraktionschef der Grünen wissen, ob der Terroranschlag in New York die deutsche Innenpolitik verändern wird. „Was weiß ich“, sagt Schlauch. Dann, nach einer kurzen Pause: „Wenn die Welt nicht mehr die gleiche sein wird, verändert sich natürlich auch die innenpolitische Landschaft.“ Schlauch weiß: Ein großer und zugleich banaler Satz.

Was sagt ein Politiker, der am liebsten schweigen würde, aber reden muss, weil ihm sein Amt verbietet, sprachlos zu sein?

Joschka Fischer reibt sich die müden Augen. Als die Fernsehkameras ausgeschaltet sind, gönnt sich der Außenminister in einer Ecke des Reichstags einen kurzen Moment der Ratlosigkeit. Er überlegt lange, bevor er Worte findet. „Das ist der Beginn des 21. Jahrhunderts“, sagt er leise, „das wird die Welt verändern.“ Fischers Stirn legt sich dabei in ein Meer von Falten.

Das politische Berlin steht an diesem Mittwoch noch immer unter Schock. In den Fraktionssitzungen am Morgen sei kaum gesprochen worden, sagen Politiker aller Parteien. Es sei über die Lage in Amerika und in Deutschland informiert worden – Innenminister Otto Schily und Verteidigungsminister Rudolf Scharping bei der SPD, Joschka Fischer bei den Grünen und der Union. Alle für diese Woche geplanten Haushaltsdebatten sind abgesetzt worden. Sie sollen in der übernächsten Woche fortgesetzt werden – verkürzt.

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnet die Bundestagssitzung um 9 Uhr angemessen – mit einer Minute des Schweigens für die Opfer des Terrorangriffs. Dann fordert die Politik wieder ihren Tribut. Der Kanzler und die Fraktionschefs aller Parteien reden. Sie versuchen das Unfassbare in Worte zu fassen – und sagen fast alle, es sei nicht möglich.

Die Regierungsbank ist bis auf den letzten Platz gefüllt, auch in den Abgeordnetenreihen ist so gut wie kein Stuhl leer geblieben, selbst der Platz von Helmut Kohl ist besetzt – aber nicht mit dem Exkanzler. Kohl ist an diesem Tag der Trauer nicht in Berlin.

Gerhard Schröder gibt eine Regierungserklärung ab. „Der gestrige 11. September 2001 wird als schwarzer Tag in die Geschichte eingehen“, lautet Schröders erster Satz. Er spricht von der Fassungslosigkeit angesichts des Terroranschlags, „dieser Kriegserklärung an die freie Welt“, vom Mitgefühl, von den möglichen Folgen der Anschläge für Deutschland. Schröders Stimme klingt beherrscht, fast schon entschlossen. Seine Rede ist knapp und präzise. Er erhält ein einziges Mal Beifall – als er dem amerikanischen Botschafter Dan Coats versichert, die Menschen in Deutschland stünden in dieser schweren Stunde fest an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Botschafter, der mit seiner Frau auf der Besuchertribüne des Plenarsaals sitzt, blickt zum Kanzler und nickt ihm kurz zu.

Nach Schröder reden die Fraktionschefs der anderen Parteien. Sie sagen alle dasselbe: Der Terror gegen Amerika ist ein Angriff auf uns alle, wir dürfen Amerika nicht allein lassen, der Terror muss bekämpft werden. Peter Struck, der SPD-Fraktionschef, trifft die Gefühlslage vieler Abgeordneter, als er bekennt: „Heute sind wir alle Amerikaner.“

Und diese 650 Amerikaner im Deutschen Bundestag gehören heute alle einer Partei an. Als PDS-Fraktionschef Roland Claus sagt, seine Partei verhalte sich oft kritisch zur Politik der USA, verstehe diese Kritik jedoch nicht als Antiamerikanismus. Als Claus die für seine Genossen ungewöhnlichen Worte spricht, dass Amerika die Solidarität aller Parteien brauche – da erhält er sogar Beifall in den Reihen von CDU und CSU.

Nach knapp einer halben Stunde ist die Sitzung vorbei. Die Abgeordneten verlassen schweigend den Saal. Die Stimmung ist gedrückt. Aber eine Träne, eine einzige Träne ist in den vergangenen dreißig Minuten nicht vergossen worden.

Ein paar Minuten später sitzen die Generalsekretäre der Parteien in einem kleinen Sitzungssaal im Reichstag. Sie verabreden, am Freitag vor dem Brandenburger Tor eine gemeinsame Solidaritätskundgebung für Amerika zu veranstalten. „Sie haben nichts dagegen, das gemeinsam mit der PDS zu machen?“, wird CSU-Generalsekretär Thomas Goppel gefragt, als er die Treppe im Reichstag herunterkommt. „Kein Problem“, antwortet Goppel, der sonst schon mal von den roten Faschisten spricht. „Wir wollen uns jetzt nicht streiten.“ JENS KÖNIG