Die große Stille danach

Ohnmächtig stehen die Menschen in Brooklyn vor der Brücke nach Manhattan

NEW YORK taz ■ Die silbernen U-Bahn-Schlangen stehen auf ihren Hochgleisen Die Gitter vor der Station York Street sind herabgelassen. Alle Züge in Richtung Manhattan sind gesperrt. „Wir sind im Krieg“, sagt ein Mann Ende sechzig vor der Brooklyn Bridge. Eine dichte weiße Wolke zieht über den East River. Feiner Staub, wie Schmirgelmehl, legt sich über Autos und Menschen.

Über die leeren Fahrbahnen der Brooklyn Bridge strömen zehntausende Menschen. Auf den beiden Granitpfeilern der Brücke wehen vier weiß befleckte amerikanische Fahnen. Vor der Brücke stellen Ladenbesitzer und Büroangestellte Wasserkanister auf die Straße. Eisengitter rollen vor den Schaufenster der Läden herab. Ein Mann hält ein großes Pappschild in die Luft: „McAllister“ steht darauf.

Freiwillige verteilen Becher mit Wasser. Es riecht nach Baustellendreck und brennendem Plastik. Ein Mann in den Vierzigern ist über und über mit dem feinen weißen Mehl bedeckt. Er starrt in die Wolke, die aus Manhattan herüberzieht. Er bewegt sich nicht. Die Arme hängen schlaff an seiner Seite. Erst als ein Helfer ihm einen Wasserbecher reicht, spricht er. „Meine Frau arbeitet im 87. Stock.“

Die Menschen sind ruhig. Ihre Augen sind weit geöffnt. Keine Autos fahren. Ein Polizist schreit: „Sie werden nicht nach Manhattan kommen. Versuchen Sie es nicht einmal.“ Ein paar bleiben stehen, drehen sich um. Der Polizist hat einen Schlagstock in der Hand. Er ist blaß, er zittert. Manche versuchen mit dem Handy zu telefonieren. Schweigen. Gehen langsam weiter.

In der Bedford Street in Williamsburg wohnt eine große Gemeinde orthodoxer Juden. Hier haben die Geschäfte geöffnet. Frauen mit breiten schwarzen Stirnbändern schieben Kinderwagen vor sich her. Männer kommen aus einer Synagoge. An einer Straßenecke stehen vier Jugendliche zusammen. Sie tragen lange schwarze Mäntel. Unter ihren breitkrempigen Hüten hängen lange Schläfenlocken. Sie diskutieren. Als ein Mann in westlicher Kleidung herankommt, verstummen sie.Transporter schleichen durch das Viertel. Ernste Männer mit Schläfenlocken sitzen darin. Stille. Keine zivilen Flugzeuge über der Stadt. Niemand hupt. Allein das Kreischen der Feuerwehrwagen und Polizeiautos unterbricht das Schweigen.

„Es ist Krieg“

Über dem von vielen Arabern bewohnten Viertel Carroll Hights in Downtown Brooklyn jagen zwei F-16 Kampfjets. Die wenigen Menschen starren nach oben. Es sind Weiße. „Die helfen jetzt auch nicht mehr“, sagt Ralf Corben. Aber dann sagt er: „Es ist Krieg. In der nächsten Woche werden einige Länder von der Landkarte verschwinden.“ Ein Passant sagt, es seien Flugzeugträger in die Bucht von New York unterwegs.

Alle arabischen Läden sind geschlossen. Die weiße Wolke ist über der Bucht von New York abgezogen. Jetzt steigt dunkler Rauch auf. Brad Winston starrt hinüber. „Ich war in der Canalstreet, nur wenige Blocks vom Trade Center weg“, sagt er. „Als ich aus der U-Bahn komme, fängt vor mir eine Frau an zu schreien, als habe sie gesehen, wie jemanden das Messer ins Auge gestochen wird.“ Das T-Shirt von Brad ist dreckig. Seine Hose ist voller Staub. „Als ich neben ihr stehe, sehe ich, wie der zweite Flieger in das Haus stürzt. Alles brennt. Ich sehe, wie Leute aus dem Wolkenkratzer springen. Ich kann nichts sagen. Mein Freund arbeitet im 53. Stock.“

Die dunkle Rauchwolke zieht über das Viertel. Ruß. Derek ist Lehrer an der Schule PS 145 in Brooklyn. „Ich habe Papiere verteilt. Plötzlich fangen die Kinder an zu schreien.“ Derek redet mit großen Pausen. „Viele Eltern arbeiten im Finanzdistrikt. Stunden später kommen einige Eltern. Über und über mit Staub bedeckt. Sie holen ihre Kinder ab.“ Derek stockt. „Viele Kinder werden nicht abgeholt.“

Am frühen Abend fahren die U-Bahnen wieder. Die Bahngleise sind ausgestorben. Ein Mann im schwarzen Anzug sucht ein Telefon. Das zweite funktioniert. „Der Mutter geht es gut“, brüllt er in den Hörer. „Der Vater wird noch vermisst.“ Der F-Train fährt von Brooklyn nach Manhattan. In der Station East-Broadway steigt ein Feuerwehrmann ein. Er hat seinen Helm in der Hand. Er setzt sich schweigend in die Ecke. Streckt die Beine von sich. Er schließt die Augen. Ein junger Schwarzer spricht ihn an: „Warst du da?“ – „Ja.“ – „Hast du Leichen gesehen?“ – „Ich habe Leichen gesehen“, sagt der Feuerwehrmann. Dann schweigt er.

DAVID SCHRAVEN