Ohne Verstand keine Kraft

■ Der olympische Sport Gewichtheben macht in Hamburg die letzten Atemzüge

In einer Backsteinturnhalle hinter dem Parkplatz des Arbeitslandesgerichts versteckt sich der Bramfelder Kraftsportverein. In der kargen Halle baumelt am Basketballbrett ohne Ring die orange-braune Flagge des BKSV. Rechts und links davon sind in eine eigens hochgezogene Wand zwei Türen eingelassen. „Gewichtheben“ steht auf den kleinen Schildern. An diesem Nachmittag leitet Diplom-Sportlehrer Johann Martin, Kasache im Deutschland-Shirt, das Jugendtraining. So wie jeden Tag. „Johann ist immer da“, sagt Ralf Hagedorn, zweiter Vorsitzende des 1959 gegründeten Klubs. Seit die Sparte bei Hansa-Germania im letzten Jahr aufgelöst wurde, ist der BKSV der einzige Gewichtheberverein für Leistungssport und Nachwuchsförderung in Hamburg.

Obwohl es im Trainingsraum nur so vor Deutschen Jugendmeis-tern jeder Alters- und Gewichtsklasse wimmelt, strahlt die Zukunft alles andere als olympisch. Seit zwei Jahren wird Martin vom Arbeitsamt bezahlt, eine befristete arbeitsbeschaffende Maßnahme. Am 1. Februar 2002 wird er arbeitslos sein. Bittbriefe vom BKSV und dem Bundesverband Deutscher Gewichtheber (BVDG) an den Hamburger Sportbund (HSB), in denen auf die Verdienste Martins, seine zentrale Rolle im Verein und sein väterliches Engagement für die Jugend hingewiesen wurde, blieben bislang wirkungslos.

„Geld gibt es nur, wo erfolgreich gearbeitet wurde“, sagt Andreas Ohlrogge, der Verantwortliche für den Leistungssport beim HSB. Nach einem Rankingsystem rangiert das Gewichtheben ganz unten. Internationale Erfolge müssten jetzt her, ansonsten bleibt der Euro-Topf verschlossen. „Sehr unbefriedigend“ sei die Situation zwar, das Geld aber einfach „zu kostbar“. Immerhin bietet der HSB an, die Hälfte des hauptamtlichen Trainergehalts in Form eines Ausgleichs zu tragen, wenn der BVDG für die andere Hälfte aufkommt. Doch dieser rutschte im Fördersystem des deutschen Sports in die dritte Kategorie ab. Jetzt soll ironischerweise besonders im Trainerbereich gespart werden.

„Bis jetzt haben wir alles immer hingekriegt“, verbreitet der 71-jährige Hagedorn Optimismus und ärgert sich doch über die mangelnde Unterstützung. Martin malt die Zukunft düsterer: „Ich lebe für die Jungs und kümmere mich um sie, nur interessiert es keinen.“ Drei Monate gibt er der BKSV-Jugendarbeit, wenn er nicht mehr dabei ist, dann ist „alles tot hier“.

Vorwiegend Jugendlichen aus Kasachstan und Usbekistan lehrt der 54-Jährige, der 1993 nach Deutschland kam, die Kunst des Gewichthebens. Die offizielle Hallensprache ist deutsch. Den Großteil seiner elfköpfigen „Truppe“ hat er direkt von den Containerdörfern in Lurup oder Bergedorf rekrutiert. Das Nesthäkchen ist der 11-jährige Nick. „Eines Tages kam Trainer Martin vorbei“, erzählt der älteste, Slawa (20), „und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mir einen Wettkampf anzuschauen. Was ich sah, gefiel mir.“ Seit fünf Jahren betreibt der Zimmermann-Azubi nun das Stoßen und Reißen und ist in dieser Zeit zum Deutschen Meister gereift. Von heute auf morgen und vor allem ohne Coach wird allerdings niemand Europameister.

Viele Jungs hat Martin zu seinem Gewichtheberraum kommen und wieder gehen sehen. „An die 400“, schätzt er. Manche hätten kein Interesse mehr, andere habe er an Drogen oder Disco verloren. „Ich bin nicht Mama Theresa“, sagt er, während das Hüpfen der Hanteln die vollgestopfte Vitrine erzittern lässt, „aber wenigstens versuche ich immer, etwas zu machen.“

Es herrscht Disziplin beim Training, der Respekt für den Kasachen mit dem breiten Kreuz, der einmal Seniorenweltmeister war, ist spürbar. Und es wird gelacht. Anhand einer zerfledderten Tabelle, die Körpergewicht und prozentuale Belastung angibt, richten sich die jungen Gewichtheber ihr persönliches Aufbauprogramm ein. Ein „wunderbarrr“ hallt neben Stöhnen und dem Steppen der Ausfallschritte immer wieder durch die Halle. Wenn es hart auf hart kommt, siezt Martin seine Schützlinge. „Machen Sie bitte 65 Kniebeugen“, so die Aufforderung. Am Ende eines jeden Trainings hat jede herumliegende Gewichtsscheibe wieder ihren angestammten Platz gefunden.

Gewichtheben sei geistlos, so das Klischee. Vorurteile über die Olympiadisziplin sind alt. „Nur durch Verstand kommt Kraft,“ lächelt Martin, vom präzisen technischen Bewegungsablauf ganz zu schweigen. Das Plädoyer für seinen Sport gerät zur Gesellschaftskritik: „Alle wollen nur Spaß haben. Geld und Spaß. In dieser degenerierten Welt sitzen übergewichtige Kinder vor dem Computer und schaffen nicht mal Klimmzüge“, lamentiert er und erinnert sich an seine Jugend, als er noch Hanteln aus verrosteten Maschinen bastelte. „Lauter kranke Leute, die kranke Leute produzieren. Wir müssen Kinder unterstützen, damit sie sich körperlich und geistig entwickeln können.“ Trainer Johann Martin gibt und erreicht viel. Was fehlt, ist die finanzielle Anerkennung und Unterstützung. Mike Liem