Fünf Minuten der Sprachlosigkeit

Zahlreiche Menschen beteiligten sich gestern Morgen an den Gedenkminuten für die Opfer in Amerika. Glocken läuteten, selbst McDonald’s machte Pause. Busse und Bahnen der BVG standen still. S-Bahnen und der normale Verkehr rauschten weiter

„Man sollte diesen Typen fangen und an die Wand stellen“, sagt die korpulente Frau mit der blonden Matte. Sie trägt eine blaue Trainingshose und einen grünen Fliespullover. In ihren Händen raschelt die B.Z. Ihre häkelnde Bekannte in der U6 Richtung Alt Tegel entgegnet etwas Unverständliches. Jetzt gleich kämen ja die fünf Minuten „Gedenk – na, wie heißt det?“ – „Gedenkgottesdienst“, wirft die häkelnde Frau ein. „Nee“, meint die andere, aber die Frage ist nicht zu klären. Wie schwierig es sei, so einen Anschlag wie in Amerika zu planen, sagt die B.Z.-Leserin: „Da braucht man ein paar Jahre.“

Am U-Bahnhof Schwartzkopffstraße hält die Bahn. Zweimal ertönt aus den knisternden Lautsprechern die Erklärung: „In Gedenken an die Opfer der Terroranschläge in Amerika ruht der Zugverkehr um 10 Uhr für fünf Minuten. Unser Mitgefühl gilt dem ganzen amerikanischen Volk und den Familien der Opfer.“ Niemand redet mehr im Waggon, einige lesen ihre Zeitung weiter. Eine Gruppe Amerikanisch sprechender Fahrgäste schweigt. Ein Jugendlicher muss niesen – „Gesundheit!“, sagt die Frau in der Trainingshose. Ihre Bekannte wundert sich: Warum sie denn so höflich sei, fragt sie. Die Angesprochene murmelt irgendetwas. Das Schweigen hält die B.Z.-Leserin nicht mehr aus: Das jüdische Museum sei ja jetzt eröffnet worden, sagt sie. Ihre Freundin geht nicht darauf ein. Dann hört man vom Bahnsteig aus die Ankündigung, dass der Verkehr nun wieder aufgenommen werde. Die U-Bahn fährt an. Die Amerikaner reden wieder.

In der ganzen Stadt folgten gestern Morgen zahlreiche Menschen den Aufrufen von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Auch die Senatsverwaltungen haben sich beteiligt. Im Roten Rathaus versammeln sich die Mitarbeiter mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit an der Treppe zum stillen Gedenken an die Toten. Auf der Friedrichstraße ruht der Verkehr weitgehend. Mehrere Wagen sind an den Straßenrand gefahren und haben ihre Warnblinkanlage angestellt. Andernorts brausen die meisten weiter.

Am Breitscheidplatz beginnen um 10 Uhr die Glocken der Gedächtniskirche zu läuten. Hunderte strömen in die Kirche: Touristen, Schulklassen, Rentner. Manche haben Kerzen mitgebracht, eine junge Frau weint still. Andere stehen einfach nur verloren und schweigend auf dem weiten Platz, es nieselt. Ein Mädchen läuft vorbei. „New York City“ steht auf ihrem Pullover. Wie ein politisches Statement scheint das jetzt gemeint, der Verkehr rauscht weiter.

In der Mc Donald’s-Filliale halten unterdessen zwei asiatische Mitarbeiterinnen ein Schild hoch, das ihre Solidarität mit den Opfern erklärt. Sie lächeln ein wenig verlegen. Die Arbeit ruht für Minuten. Ein Mann hat sich seinen Burger vorher gekauft, kauend liest er die Bild-Zeitung. Vor der Videoleinwand in der Halle des Bahnhofs Zoo sammeln sich schweigend Passanten. Das flimmernde Bild einer Nachrichtensprecherin verkündet, mehrere Attentäter seien bereits identifiziert. Draußen vor dem Eingang schreibt eine Polizistin einem Falschparker einen Strafzettel. Es ist 10 Uhr 07.

Die Regionalzüge und S-Bahnen sind ohne Unterbrechung weitergefahren. Im Kaufhof am Alexanderplatz herrschte hingegen gespenstische Ruhe, nachdem der Geschäftsführer Mitarbeiter und Kundschaft gebeten hat, sich an den Gedenkminuten zu beteiligen.

Auch am U-Bahnhof Mehringdamm stehen die Züge still. Der Zugabfertiger beschallt den Bahnsteig: „Unser Mitgefühl gehört dem amerikanischen Volk.“ Im Waggon macht sich betretenes Schweigen breit. Manche versuchen zu lesen. Ein Pärchen fragt sich, was denn nun aus Mazedonien wird. Ein älterer Herr, der die Hände gefaltet und den Kopf zum Beten gesenkt hat, fährt die beiden wirsch an: „Ich glaube, das ist jetzt nicht der richtige Moment zu quatschen!“ Eine blondierte Mitvierzigerin beginnt zu weinen. Die junge Frau von gegenüber reicht ihr ohne Worte ein Taschentuch. Dann schmeißt der Fahrer die U-Bahn wieder an. Es ist fünf Minuten nach zehn. Die Türen schließen sich, der Zug rollt. Das Paar nimmt seinen Gesprächsfaden wieder auf. Der Blonden kullern noch immer Tränen aus den Augen. GES/KUP/PEWE/WERA