Mondnacht gegen den Schreckenstag

In der deutsch-amerikanischen John-F.-Kennedy-Schule soll „normaler“ Unterricht von der Realität ablenken

BERLIN taz ■ Um 9.45 Uhr ertönt eine männliche Stimme über Lautsprecher. „Die deutsche Regierung rief für zehn Uhr zu fünf Minuten Stille auf“, hallt es durch Flure und Klassenzimmer der deutsch-amerikanischen John-F.-Kennedy-Schule in Berlin-Zehlendorf. Der Satz „We will join in“ beendet die Durchsage.

Doch bis zehn reden die Schüler. Über das Schrecken. Über die Bilder. Über das Attentat. „Es ist noch bedrückend“, sagt die 16-jährige Greta, „aber schon etwas besser.“ Die gleichaltrige Jennifer ergänzt: „Das Bedürfnis zu reden ist immer noch da.“ Jannike, ebenfalls 16 Jahre alt, hofft, „dass die Bundesregierung jetzt die richtigen Entscheidungen trifft“. Denn: „Alle haben Angst vor einem neuen Krieg.“ Wie diese „richtigen Entscheidungen“ aussehen könnten? „Das weiß man nicht.“ Doch eins ist für Jannike sicher: „Die Täter muss man plattmachen.“ Ein anderes Mädchen sagt: „Wir versuchen, uns auf die Schule zu konzentrieren.“ Ein amerikanischer Mitschüler meint auf Englisch: „Ganz egal, wo so eine Tragödie passiert. Wenn so viele Menschen sterben, müssen alle zusammenhalten.“ Dann ist es zehn Uhr. Im Gebäude herrscht abolute Stille.

Am ersten Tag nach den Anschlägen in New York und Washington waren etwa 500 der 1.300 deutschen und amerikanischen Schüler mittags mit Blumen und Kerzen zu dem drei Kilometer entfernten amerikanischen Generalkonsulat gelaufen. An normalen Unterricht war an der Schule, die 1960 unter dem Namen „German-American Community School“ als Symbol der Freundschaft zwischen den USA und Deutschland gegründet und 1963 umgetauft wurde, nicht zu denken.

Doch gestern wollten Schüler und Lehrer den Weg zurück in die Normalität finden. Kein einfacher Versuch, wenn vor der Tür die Polizei steht, um die Schule zu schützen. Wenn alle um Punkt zehn Uhr aufstehen und fünf Minuten lang schweigen. Reglos schauen die sieben Mädchen und sechs Jungen einer 13. Klasse auf Tische oder den Boden. Dann nehmen sie fast geräuschlos Platz. In der Unterrichtsstunde vor der Schweigeminute hatten sie erneut „über die grauenvollen Ereignisse“ gesprochen, erzählt Deutschlehrerin Christiane Wilberg. Doch in der zweiten Stunde will sie das Gedicht „Mondnacht“ von Joseph Freiherr von Eichendorff behandeln. Romantik, Sehnsucht, Fantasie gegen die grausame Realität. „Wir müssen zur Normalität wiederfinden“, begründet sie die Wiederaufnahme des Lehrplans. „Auch wenn es sehr schwer ist.“

Christiane Wilberg geht behutsam mit ihrer Klasse an diesem Morgen um. „Vielleicht nehmen Sie Ihre Aufzeichnungen zur Hand“, sagt sie. Oder: „Vielleicht hilft es ein bisschen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren.“ Bereitwillig analysieren die Jugendlichen anhand von Zeilen wie „Es war, als hätt der Himmel die Erde still geküßt“ oder „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“ die „lyrische Situation“ des Gedichts. Die Schüler benennen Himmel und Erde als „Stimmungsträger“. Sie bewegen sich auf ihrer Suche nach Normalität in einer Traumwelt – voller Konjunktive.

Wenn Lehrerin Wilberg spürt, dass sie ihre Schüler überfordert, zeigt sie Verständnis. „Ich weiß, es fällt immer noch schwer, sich auf ein Gedicht zu konzentrieren.“ Der 18-jährige Mischa, den sie als sehr aktiven Schüler kennt, meldet sich nicht ein einziges Mal zu Wort. „Ich habe das alles noch nicht verdaut“, sagt er. Nach dem ersten Schock, den Mischa noch nicht ganz überwunden hat, ängstigt er sich, „dass Amerika jetzt etwas tut, was die Welt in eine noch größere Krise stürzt“. Noch weiß er nicht, wie er die nicht erledigten Hausaufgaben nachholen soll. Denn: „Ich habe Angst, nicht mehr aufzuwachen.“ BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA