The Spirit is fast weg

■ Aber the Show is gut. Das verkauderwelschte Musical „Hair“ hatte am Richtweg Premiere / Ein Anti-Kriegsstück ist es bestimmt nicht

Musical-Direktor René Meyer-Brede war um Authentizität und Aufrichtigkeit bemüht. Man habe lange überlegt, ob man das Stück, ein Tanz- und Singspiel immerhin, aufführen solle in diesen Tagen. Künstler aus fünf Kontinenten und aus sieben Ländern seien daran beteiligt, bemühte er Multi-Kulti-Vorstellungen, und meinte damit vermutlich: wäre es nicht schön, die Menschen dieser Welt würden, egal welcher Hautfarbe, zusammen tanzen und singen?

Stattdessen werden Flugzeuge zu Waffen und alle Welt zum Opfer, bis auf einen kleinen Teil natürlich, der zum Täter wird. Eine schwierige Lage für die Veranstalter eines Musicals, das, als Love-and-peace-Stück und gegen den Vietnam-Krieg gerichtet, vor mehr als dreißig Jahren seine amerikanische Uraufführung feierte.

Man habe sich aber – so die absehbare Argumentation von Meyer-Brede – dazu entschieden, die Premiere stattfinden zu lassen, denn „es gab nie einen besseren Tag als den heutigen“. Damit war das Maß an Pathos dann auch gestrichen voll, der Direktor hatte seine Schuldigkeit getan, schließlich hätte man eine solche Musical-Premiere ganz ohne Vorrede nicht durchgehen lassen. Aber auch das wird eine Rolle gespielt haben: Ist die Weltlage denn in fünf Wochen entspannter? Und soll denn so lange jede Uhr still stehen und keine Kasse mehr klingeln? So etwas gibt man natürlich nicht zu, obwohl es gar nicht ehrenrührig gewesen wäre.

Na gut, Vorhang auf, the show begins. Claude, ein bisschen Rebell, ein bisschen Milchbubi, wird in die Clique von Berger eingeführt. Ralf Schaedler ist Claude und sieht ein bisschen aus wie Brad Pitt. Er schauspielert seine Rolle als halbgarer Ausbrecher aus den Normen der – damaligen! – amerikanischen Gesellschaft nicht schlecht. Ihm, Claude, wird es als Einzigem aus der Gruppe nicht gelingen, über den Schatten zu springen, den seine Eltern und die Vereinigten Staaten von Amerika werfen. Während die anderen Jungs der Clique um den Aussteiger George Berger ihre Einberufungsbefehle verbrennen, gehorcht Claude dem Befehl letzten Endes. Im Original-Musical wird er eingezogen und kehrt im Sarg zurück.

Diese Vorlage hat freilich durch die neue Regie (Kim Duddy) und nicht zuletzt durch die musikalische Leitung von Martin Gellner und Werner Stranka erhebliche Veränderungen erfahren. So wird die Anfangshymne von Hair, Aquarius, der Ruf nach dem harmonischen Zeitalter des Wassermanns, als gescratchte Mischung aus Rock, Techno und HipHop präsentiert. Für Nicht-Puris-ten durchaus akzeptabel.

Völlig inakzeptabel dagegen die technische Ausstrahlung: Jeder Song dröhnt so laut aus den Lautsprechern, dass man regelrecht nach demjenigen suchen muss, der grade den Mund aufmacht und also singt. Dabei klangen die Stimmen nicht schlecht. Die von Claude etwas zaghaft, besonders bei seiner Hymne „Manchester England, England“. Wenn Claude mit dem Lebensgefühl einer ganzen Generation im Rücken singt: „I believe in God, and I believe that God believes in Claude“, dann muss das kacheln!

Aber es gab gesanglich und musikalisch auch echte Höhepunkte. Der Gemeinschaftssong „Hair“ geht heute noch sofort in Magen und Beine, er wurde aber auch fast genauso gespielt und betont wie im Original, nur ein bisschen schneller. Ganz wunderbar auch das Solo „Frank Mills“ von Crissy, gespielt von Karin Kern. Sie hält die ganze Inszenierung über ihr Klein-Mädchen-Image aufrecht, zugleich ahnt man, dass sie auch noch ganz andere Rollen spielen könnte. Von der weiblichen Hauptfigur, Sheila, dargestellt von der Niederländerin Peti van der Velde, kann man das nicht behaupten. Wunderschön anzusehen ist sie, wenn man auf Makellosigkeit abfährt, aber tänzerisch und schauspielerisch war wenig bei ihr los, und auch gesanglich gab es Bessere. Der heimliche Star dieses Abends? Der kleine gelb-pinkfarbene Punk namens Woof (Jeremy Cummings), der auch als Pappfigur fürs Musical wirbt, kann alles: Singen, tanzen, spielen, ihm gelingen komische Szenen und Ausdifferenzierungen der Rolle, die man bei den anderen vergeblich sucht. Auch Tribe-Leader Berger ist als Musical-Figur gut gecastet mit seinen schweren Rasta-Locken und seinem glaubhaft stolz getragenen Indianer-Schmuck vor der oft bemühten Beule in der Hose.

Womit wir wieder bei den Provokationen wären, die mit dem Stück verbunden waren – und teilweise noch sind. Drogen, Gottesherausforderungen, Sex, jederzeit auch mit dem anderen Geschlecht. „They do ist for the sinnliche Erfahrung“ ist einer der vielen deutsch-englischen Kalauer, die das Publikum dankbar belacht. Aber die wenig anregenden, durchgängig im Kauderwelsch gehaltenen Zwischenreden, haben auch Aufforderungscharakter - freilich einen, der sofort verpufft. „Jede Mutter und jeder Vater in diese Saal soll going home zu seine Kinder und lassen frei sein.“ Ach ja richtig, da war ja noch was, das Stück hatte mal eine message und wo platziert man die bloß?

Man platziert sie zum Beispiel in Claudes Alptraum vom Krieg. Die ganze Clique um Berger geht mit Gärtner Woofs Pflanzen auf einen Trip, der für Claude zum Höllentrip wird. Leichen (Puppen) hängen zahllos in den Seilen vom Bühnenhimmel (Bühnenbild angenehm zurückhaltend, aber mit teils guten Effekten von Martin Kraemer). Wie in der Eröffnungsszene von Platoon schrauben sich die Geräusche rotierender Hubschrauberflügel in die Gehörgänge, an der Leinwand im Hintergrund Flüchtlingstrecks, Maschinengewehre, Israel, Palästina, die ganze Palette rauf und runter. Dazwischen Claude, zuckend in den Seilen eines Fallschirms. Klar ist das eine beeindruckende Szene. Jede Szene, die Krieg spielt, ist im Moment beeindruckend. Deswegen hat Pro Sieben am Wochenende ja auch „Der Soldat Ryan“ gezeigt.

Dass dieser Film gespielt wurde, dass dieses Musical aufgeführt wurde, ist nicht unmoralisch. Man muss das Musical aber deswegen nicht gleich zum top-aktuellen Anti-Kriegs-Musical heraufdichten. Dass in Claudes Alptraum vom Krieg Tote vorkommen...ja Gott, das ist so im Krieg. Und die Aussage: „Ich will keine Toten, das macht mir Angst, und schon gar nicht will ich selber sterben“ ist von solcher Allgemeinheit, dass jeder sie unterschreiben könnte.

Der Stoff des 1967 von den arbeitslosen Schauspielern James Rado und Gerome Ragni geschriebenen Musicals bezog sich auf Vietnam und war daher nicht nur ein Anti-Kriegs-Stück, sondern auch ein Anti-Vietnam-Stück. Von dieser Aktualität wollte die Bremer Premiere schmarotzen. Aber das geht nicht. Dieses Musical „Hair“ ist höchstens so sehr ein Anti-Kriegsstück, wie Nicoles „Ein bisschen Frieden“ ein Anti-Kriegs-Lied ist.

Die Grenze zwischen Kultur und Realität ist in unseren Gesellschaften gut markiert, es gibt an dieser Stelle keinen Grund, sie zu überschreiten. Bleibt man im Feld der Kultur, dann war die Bremer Premiere von „Hair“ mit gut drei Stunden ordentlich Programm auf der Bühne ein guter Start in die neue Musical-Saison. Elke Heyduck