„Die Wall Street ist der sicherste Platz der Welt“

Der New Yorker Finanzdistrikt versucht mühsam zur Normalität zurückzufinden. Zwischen Autowracks und patrouillierenden Sicherheitskräften vergewissert man sich erst einmal, wer die Katastrophe überlebt hat. Heute ist hier in Downtown Händeschütteln die häufigste Geste

NEW YORK taz ■ Vor den klassizistischen Säulen der amerikanischen Börse hängt eine riesige US-Flagge. Die Börse handelt wieder. Der Dow Jones Index ist über 7 Prozent in den Keller gerauscht. Kein Grund zur Sorge, meint der Börsenboss Richard Grosso vor Journalisten, „der Kapitalismus behauptet sich“.

In Manhattan ist scheinbar wieder der Alltag eingekehrt – eine Woche nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center. In der U-Bahn schläft ein kleiner Junge auf dem Schoß seiner Mutter. Zwei Männer brüllen sich vor der Penn Station an. Nur im Finanzdistrikt herrscht immer noch Ausnahmezustand. Am Dienstag haben die Geschäfte den zweiten Tag geöffnet. Die Trümmer der Twin Towers recken ihre Stahlskelette in den Himmel, es riecht nach verbranntem Gummi. Feuerwehrleute und Bauarbeiter suchen noch immer nach Opfern und Überlebenden.

Vor dem Bowling Park im Herzen des Finanzdistrikts steht der Börsenstier, bronzenes Symbol für den Boom. Seine Muskeln spannen sich, die Hörner sind angriffslustig vorgereckt. Irgendwer hat ihm amerikanische Fahnen an die Ohren geklebt. Eine dritte steckt ihm quer im Maul, wie ein Piratenmesser. Auf dem Arsch des Bullen klebt ein Steckbrief von Ussama Bin Laden. Die Bush-Regierung hat fünf Millionen Dollar auf seinen Kopf ausgesetzt.

„Wir stehen zusammen“

Vor der Wall Street hockt ein Angestellter auf einem Absperrgitter. Es ist Derek Barnes, der für die Deutsche Bank arbeitet. Er ist blond, jungenhaft, hat ein eckiges All-American-Gesicht. „Es ist seltsam ruhig an der Börse. Am Morgen war es lebhafter.“ Er versucht seine Gefühle zu beschreiben: „Es ist nicht normal. Es kribbelt. Es ist nicht der Markt.“ An seinem Revers hängt eine gelbe Schleife. „Die ist aus dem letzten Golfkrieg. Wir stehen zusammen, es ist großartig, Amerikaner zu sein.“ Ein anderer Börsianer hat sich eine US-Fahne auf den Rücken seines Jacketts genäht.

Wayne Browie ist ein Pendler aus New Jersey. Er hat keine Angst vor neuen Anschlägen: „Die Wall Street ist jetzt der sicherste Ort der Welt.“ Hunderte Polizisten und Nationalgardisten stehen an Absperrgittern, kontrollieren willkürlich die Pässe von Passanten. Vor der Halle der Föderation tritt ein Polizist mit einem Schäferhund auf die Treppenempore. Er hat eine Staubschutzmaske auf. Der Hund tänzelt. An der Ecke sitzt ein Gardist in einem tarnfarbenen Monsterauto. Es ist mannshoch, breit wie ein Truck, hat hüfthohe Reifen. Die schmalen Fenster stehen senkrecht in der langen Motorhaube. „Das ist ein Humway“, erklärt der Fahrer. „400 PS – damit kann man über jedes Hindernis fahren.“ Im Heck des Wagens ist eine Lafette für ein Maschinengewehr montiert.

Neben der U-Bahn-Station Nassau-Broadway liegt das Geschäft von Vernon Torrance. Der Afroamerikaner verkauft Medallien, Pokale und Firmenschilder. Die meisten Kunden hatte er im World Trade Center. „Heute hatte ich erst einen Anruf. Der Mann wollte nichts kaufen, sondern nur fragen, ob ich noch lebe. Das ist auch das Wichtigste.“ Ein Mann bleibt stehen. Geht auf Torrance zu. Schlägt in seine Hand ein. Lächelt ihm erleichtert zu. Und geht weiter. „Mann, wir müssen erst mal wissen, wer noch lebt.“ Dieses Händeschütteln ist neu in der City. Heute ist es die häufigste Geste hier in der Gegend.

„Bete, Amerika!“

Vor dem Steakrestaurant Nebraska in der Tone Street wirft der Kellner seine Kippe in den Staub. „Hier ist nichts los“, erzählt er. „Es kommen keine Banker rüber, ich mache keinen Umsatz. Ich will nach Hause.“ An der Ecke steht ein Transporter der Firma „Cheese Sticks“. Die Fenster sind zerbrochen, die Sitze voller Staub. Auf dem Amarturenbrett steht ein Pappbecher, Staub schwimmt auf einer Kaffeepfütze. Auf dem Tourenzettel für den 11. September ist nur eine Adresse abgehakt: Toni’s Pizza Italia.

Noch nicht alle Läden haben für den Publikumsverkehr geöffnet. In einer Boutique saugt eine Verkäuferin den Teppich, in einer Buchhandlung stellen junge Frauen neue Bücher in die Regale. Ein Geschäft für Damenunterwäsche kündigt für morgen einen Räumungsverkauf an. Schlüpfer mit World-Trade-Center-Staub kosten die Hälfte.

Gegen Abend füllt sich die Gegend. Menschen aus ganz New York kommen. Es hat sich herumgesprochen, dass die Polizei nur noch selten Pässe kontrolliert. Auf der Liberty Street stauen sich die Fußgänger. Von hier aus hat man einen ausgezeichneten Blick auf die Trümmer des World Trade Centers. Die Sonne geht unter, taucht die Stahlskelete in blutrotes Herbstlicht. Eine Touristin stöhnt: „Was für ein schönes Foto.“ Ein Prediger hält eine Tafel hoch: „Bete, Amerika!“

An der Ecke verkauft Franklin Hopkins Bagels. Er ist der Einzige in der Umgebung. Die Brötchen sind sauber, mit Butter bestrichen. Sie kosten 50 Cent, wie überall in der Stadt. „Es kann nicht ewig so weitergehen“, sagt Hopkins, „New York muss zur Ruhe kommen.“ DAVID SCHRAVEN