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Hanseatische „Experimentale“

Der scheidende Festivalleiter Josef Wutz nennt es vorsorglich „zukunftsweisend“: Das Filmfest Hamburg liebt den Standort und modernisiert sich  ■ Von Christiane Müller-Lobeck

Eine Menge Zeit, großes Organisationstalent und Mut zum Risiko braucht auch dieses Jahr, wer Hamburgs Filmfest besuchen will. Zwar haben Festivalleiter Josef Wutz und sein Team wie gewohnt eine Vorauswahl an Filmen getroffen: Was bereits in Berlin, Cannes oder Venedig der Kritik standgehalten hat, wird von Montag an dem hiesigen Publikum präsentiert. Doch bei knapp 90 Filmen an sieben Tagen in fünf verschiedenen Kinos ist es fast unmöglich, einen Überblick zu behalten.

Wutz, dessen Vertrag Ende dieses Jahres ausläuft, hat – gleichsam sein Vermächtnis – dem Festival noch einen neuen Preis beschert: den Digi§ward. Für den Wettbewerb ausersehen wurden Filme, die „überwiegend digitale Technologie verwendet haben“. Darunter etwa Fausto 5.0 der Performancegruppe La Fura dels Baus oder das Spiel-filmdebüt des britischen Dokumentarfilmers Dom Rotheroe. Die Verwendung einer DV-Kamera für seinen My Brother Tom war hier hinreichender Grund für die Nominierung. Rotheroe verfolgt mit ihr die symbiotische Beziehung zweier missbrauchter Jugendlicher. Weniger als bisherige Filme zum Thema nimmt er sich dabei der Frage „Wie kommt es dazu?“ als vielmehr der Spuren an, die der Missbrauch hinterlässt, und entwirft einen möglichen, wenn auch märchenhaften Umgangs damit jenseits therapeutischer Institutionen.

Die auszulobenden, von der Hamburger Wirtschaftsbehörde zur Verfügung gestellten 100.000 Mark für den Digi§ward kommen allerdings nicht den Regisseuren, sondern den Produzenten der Filme zugute. Wie die langjährige Reihe des Festivals „tv movies made in hamburg“ wurde der Preis vor allem deshalb ersonnen, um die Bedeutung des Festivals für den sagenumwobenen Medienstandort Hamburg zu unterstreichen. Doch vielleicht sortiert uns die „Experimentale“ (Wutz) der Zukunft die Filme ja nicht mehr nach farbigen Reihen, sondern nach ihren Anteilen digitaler Technik, gemessen in Prozent.

Der nach Douglas Sirk benannte, „vielleicht unbekannteste Filmpreis Deutschlands“ geht dieses Jahr nach Jim Jarmusch und Wong Kar-Wai erstmalig an einen iranischen Filmemacher. Ausgezeichnet wird am 27. September Majid Majidi (Colour of Paradise), der nun mit Baran die Situation afghanischer Flüchtlinge im Iran thematisiert. Gegen die politische Brisanz, die diese Wahl angesichts der Ereignisse in New York ungewollt bekommen hat, nimmt sich der letztjährige Filmfest-Skandal um den Asylantrag und die umgehende Verschaffung des Hauptdarstellers von Djomeh in den deutschen Osten geradezu harmlos aus. Mit Delbaran von Abolfazl Jalili und Babak Payamis The Secret Ballot setzt das Festival seine Bemühungen um den iranischen Film fort. Die Formsprache des iranischen Neorealismus, an die sich alle drei Filme halten, mag manchen inzwischen epigonal erscheinen. Angesichts der fantastischen Verrenkungen im Islambild des Westens wirkt sie aber immer noch wohltuend.

Eine Flüchlingsgeschichte ganz anderer Art erzählt Miss Wonton: Eine junge Frau aus der chinesischen Provinz – mutmaßlich HIV-positiv – wird von den Dorfbewohnern verfolgt und schließlich in das Dasein einer Illegalen in New York getrieben. In schlafwandlerischen Bildern entwirft der junge Regisseur Meng Ong das Porträt einer Rechtlosen, die der Unbill ihres Lebens unerträglich lange bloß mit einem naiven Glauben an den amerikanischen Traum begegnet.

Dass letzterer sich kaum anders als durch illegale Machenschaften verwirklichen lässt, ist einer der Topoi des Film noir. Joel und Ethan Coen haben sich seiner in The Man Who Wasn't There angenommen. Zwar scheitert der freudlos lebende Friseur Ed Crane traditionsgemäß gründlich mit seinem Plan, durch die Erpressung des Chefs seiner Frau zu dem Geld für eine neue Existenz zu gelangen. Doch Billy Bob Thornton gelingt es in der Hauptrolle des Schwarz-weiß-Streifens tatsächlich, derartig intensiv „nicht da“ zu sein, dass die Verhältnisse, mit denen er es zu tun hat, mehr als nur eine heimliche Nebenrolle spielen.

Anders als dieser werden es – wie immer – viele der Filme des diesjährigen Hamburger Filmfes-tes schwer haben, einen regulären Starttermin zu bekommen. Wer also auf „den neusten“ Coens, Moretti oder Rivette noch etwas warten kann, sollte sich lieber an Unbekannteres, etwa die in der „tesafilm-Reihe“ versammelten Erstlinge halten. Und wie Das Zimmer meines Sohnes eines offenbar zum Alterswerk neigenden Nanni Moretti (Liebes Tagebuch) mit seinem Melodram beweist, ist das Risiko einer Enttäuschung bei dieser Strategie keineswegs größer.

Eröffnung mit engel + joe: Mo, 19.30 Uhr, Cinemaxx; weitere Filme siehe Programm oder www.filmfesthamburg.de; der Vorverkauf läuft bereits

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