Hunderttausend werden fliegen

Die US-Fluggesellschaften erhalten 15 Milliarden Dollar Hilfe, bis Jahresende wird 100.000 Beschäftigten gekündigt. Die Rezession ist da

In einer Woche verloren US-Firmen1,4 Billionen Dollaran Börsenwert

aus New York DAVID SCHRAVEN

Einer hält die Fahne immer noch uneingeschränkt hoch: Für US-Präsident George W. Bush ist die Wirtschaft der USA einfach nur „grundsätzlich stark“. Die Terroristen „haben ein Symbol des amerikanischen Reichtums zerstört“, sagte er am Samstag in seiner wöchentlichen Rundfunkansprache zu den Anschlägen auf das World Trade Center. „Aber sie konnten dessen Quelle nicht antasten.“

Viele Wirtschaftsexperten sehen das anders. Bei Umfragen erklärten sowohl die so genannten amerikanischen Wirtschaftsweisen als auch Händler von Staatsanleihen aus führenden Finanzhäusern, die USA befänden sich bereits in einer Rezession. Nun werde Unterstützung durch den Staat und die Geldpolitik gebraucht. Für die hart angeschlagene Luftfahrtindustrie verabschiedete der US-Kongress am Freitagabend Ortszeit ein Hilfspaket von 15 Milliarden US-Dollar. In der ersten Woche seit ihrer Wiedereröffnung hatten die New Yorker Börsen ein Debakel erlebt. Obwohl US-Notenbankchef Alan Greenspan am ersten Tag den Leitzinssatz um 0,5 Basispunkte auf 3 Prozent senkte und damit Geld noch einmal verbilligte, fielen die Kurse auf täglich neue Rekordtiefs. Im Verlauf der Woche verlor der Standardwerte-Index Dow Jones 14,3 Prozent und landete schließlich bei 8.235,81 Punkten. Vergleichbares hatte es nicht einmal bei der Wall-Street-Krise im Oktober 1929 oder beim Crash im Oktober 1987 gegeben. Der Gesamtwert der in den USA notierten Aktien schnurrte zusammen: Am Freitagabend waren sie nur noch 10,3 Billionen US-Dollar wert, 1,4 Billionen weniger als am Montagmorgen.

Die schon vor den Anschlägen kriselnde Realwirtschaft wird von diesem Börsenrutsch weiter unter Druck gesetzt. Einiges spricht dafür, dass der private Konsum, der in den USA viel stärker als in Europa über Börsengewinne finanziert wird, einbricht. 18 der 21 Wirtschaftsprofessoren, die die US-Regierung beraten, erwarten, dass das Bruttoinlandsprodukt, also die Summe aller in den USA produzierten Waren und Dienstleistungen, im laufenden Quartal um 1,2 Prozent und im nächsten um 2,8 Prozent schrumpfen wird. Dieser Rückgang des Wirtschaftswachstums in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen bedeutet eine Rezession wie aus dem Lehrbuch. Und damit nicht genug: Auch im 1. Viertel des kommenden Jahres, so die Professoren, bleibt es beim Minus.

Wall-Street-Händler, die von der Nachrichtenagentur Reuters befragt wurden, meinten, die Leitzinsen würden bis zum Jahresende auf höchstens 2,5 Prozent, möglicherweise aber auch noch weiter gesenkt werden müssen.

Gerätselt wird schon wieder, wann Greenspan zum dann neunten Mal in diesem Jahr die Zinsen antastet. Die meisten Experten tippen auf das Zentralbanktreffen am 2. Oktober. Analysten an der Wall Street rechnen aber schon in dieser Woche damit.

Für die am direktesten von der Krise betroffene Branche, die Fluggesellschaften, hat der US-Kongress am Samstag 15 Milliarden US-Dollar bereit gestellt. Davon sollen 5 Milliarden als Direkthilfe nach Passagieraufkommen und Meilen verteilt werden. Für 10 Milliarden US-Dollar übernimmt der Staat Kreditgarantien. Zusätzlich müssen Fluggesellschaften künftig nur noch bis zu einer Höhe von 100 Millionen Dollar für Verluste im Zusammenhang mit Verletzungen und Todesfällen haften. Darüber hinaus gehende Ansprüche sollen vom Staat beglichen werden, der auch das Versicherungsrisiko im Fall von Krieg und Terror übernimmt. Ein Fonds für die bis zu 100.000 Beschäftigten, die bis Jahresende gekündigt werden sollen, ist offenbar nicht angedacht.

Ob die US-Regierung über die Hilfen für die Luftfahrt hinaus ein allgemeines Konjunkturprogramm auflegt, ist noch unklar. Diskutiert werden Konzepte mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Viele Demokraten setzen auf Senkungen der Lohn- und Einkommensteuern, die die private Nachfrage ankurbeln würden. Die meisten Republikaner wollen jedoch niedrigere Unternehmensteuern. Auch staatliche Investitionsprogramme sind im Gespräch. Als mögliche Größenordnung für das Gesamtpaket wird eine Summe von 40 Milliarden US-Dollar genannt. Notenbankchef Greenspan hatte der Diskussion schon in der vergangenen Woche einen Dämpfer versetzt, als er erklärte, das Schlimmste für die Wirtschaft sei eigentlich schon vorüber. Auch innerhalb der Regierung ist umstritten, ob ein Zuviel an Stimulation nicht schädlicher wäre, als erst einmal abzuwarten. Tatsächlich gilt zumindest für viele Unternehmen, dass ihr Problem weniger darin besteht, dass sie zu wenig Investitionskapital haben. Sie haben vielmehr damit zu kämpfen, dass sie ihre Produktionskapazitäten während der vergangenen Boomjahre zu weit ausgebaut haben.MITARBEIT: BEATE WILLMS