Unser unheimliches Heim

Ein Lichtblick in Zeiten des Kulturkampfes: Der amerikanische Theoretiker Homi K. Bhabha richtet sich in seinen Schriften gegen die monströsen Simplifizierungen von Andersheit nach dem Kolonialismus

von DAVID LAUER

In Zeiten krisenhafter Verunsicherung klammert man sich an vertraute Erklärungsschemata und Autoritäten. Nach den Terroranschlägen von New York und Washington bescherte uns dieser Reflex nicht nur die jüngste TV-Reaktivierung von Peter Scholl-Latour, dem Erich Ribbeck der Islamexperten, sondern auch die triumphale Auferstehung der aus gutem Grund totgesagten These Samuel Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“. Höchste Zeit also, sich vertraut zu machen mit Gegenelixieren gegen die falschen Vereinfacher, mit anderen Theorien der Kultur im Plural. Zum Beispiel mit denen Homi K. Bhabhas, Professor für englische Literatur an der Universität Chicago und laut Newsweek einer der „100 people for the new century“.

In seinem Hauptwerk „Die Verortung der Kultur“ (Stauffenburg Verlag, Tübingen 2000, 64 DM) beschreibt Bhabha, wie der Kolonialismus durch eine „autorisierte Projektion radikaler Andersheit“ die Unterwerfung seiner Opfer legitimiert: Diese werden zu Wilden erklärt, damit sie anschließend „zivilisiert“ werden können. Gegen diese Ideologie haben die Unterdrückten in der Regel keine Waffe außer einer eigenen, ebenso ideologischen Projektion ihres angeblich wahren Wesens, sei es die „Négritude“ oder der Islam. So prallen scheinbar die Kulturen aufeinander. Doch schon in dieser unvermittelten Gegenüberstellung liegt der Fehler – es macht dann keinen Unterschied mehr, ob man die „andere Kultur“ liberal toleriert oder romantisch verklärt, statt sie zu unterdrücken.

Die scheinbar unüberbrückbare Diversität homogener Kulturen ist nur das Produkt wechselseitiger Projektionen der Andersheit. Bhabha verordnet dagegen nichts weniger als „eine radikale Revision des Begriffs der menschlichen Gemeinschaft selbst“, indem er zunächst die monströsen Simplifizierungen jener Projektionen seziert. Das Verhältnis von Herren und Knechten im Kolonialismus erlaubt es nämlich keiner der beiden Seiten, sich im Besitz einer authentischen Tradition zu wähnen. Die Kultur der Kolonisierten entpuppt sich, da sie ja als Waffe im Freiheitskampf überhaupt erst konstruiert wird, als indirektes Produkt der kolonialen Invasion (wie zum Beispiel der heutige Islamismus). Das scheinbar Ureigenste trägt so die unauslöschlichen Spuren des Anderen immer schon mit sich. Doch auch die scheinbar unbegrenzte Macht der Kolonialherren erweist sich als ambivalent: Indem der Herr die Knechte zur Mimikry seiner selbst zwingt, verliert er seine Einzigartigkeit. Wenn der Herr den Knecht das Sehen gelehrt hat, fühlt er plötzlich dessen verunsichernden Blick auf sich ruhen. Die „Zivilisierung“ des Fremden erzeugt daher unausweichlich die Verfremdung der Zivilisation, da auch uns der kontaminierende Blick des Fremden plötzlich innerhalb des scheinbar Eigensten begegnet. Und zwar ganz wörtlich, denn die Kolonisierten leben längst als Bürger in den Metropolen und zwingen die ehemaligen Kolonialherren, die Erzählungen über ihre Verbrechen als Teil der eigenen Identität anzuerkennen. So zahlen sie für ihren Versuch, den Kolonisierten eine Identität aufzuzwingen mit der unaufhaltsamen Zersetzung ihrer eigenen. Die Neuerfinder re-essenzialisierender Mythen zum Schutze der „ursprünglichen“ Tradition (Leitkultur) sind auch nur ein Teil dieses Spiels und merken es nicht.

Bhabha bezeichnet diese Mehrstimmigkeit als „Hybridität“ der Kultur, die jeden Gedanken an Authentizität obsolet macht. Hybridität ist aber nicht ein historisches Produkt des kolonialen Zeitalters, in dessen Verlauf die ursprünglich „reinen“ Kulturen sich vermischten. Es gibt diesen reinen Ursprung nicht. Kultur ist in sich hybrid. Sie schuf sich ihre „Anderen“, Frauen, Schwule, Juden, lange bevor Menschen anderer Kontinente in diese Rolle gezwungen werden konnten. Differenz ist nicht, was an der Grenze „unserer“ zu „anderen“ Kulturen liegt, Differenz spaltet Kultur vom Zentrum aus. Unser Heim, so Bhabha mit Freud, ist immer schon un-heimlich gewesen.

Bhabhas Forderung ist daher, die gängige Betrachtungsweise zu drehen. Man kann nicht von der Diversität vorgegebener Kulturen ausgehen. Auszugehen ist vielmehr von kultureller Differenz, vom „Zwischenraum“ einer „transnationalen und translationalen“ Kultur, in dem endlose kulturelle Differenz produziert und Identität immer neu verhandelt wird. Bhabha hofft auf die „Konzeptualisierung einer internationalen Kultur, die nicht auf der Exotik des Multikulturalismus oder der Diversität der Kulturen, sondern auf der Einschreibung und Artikulation der Hybridität von Kultur beruht“. Dazu braucht es allerdings Menschen, die die Differenz in sich selbst anerkennen, d. h. mit ironischer Distanz zu sich selbst leben können. Ansätze einer solchen Kultur findet Bhabha nicht in politischen, sondern in literarischen Strömungen, in den Werken von AutorInnen wie Toni Morrison und Salman Rushdie. Es wäre billig, dies als Flucht aus der harten Realität in die Kunst zu deuten: Hier werden literarische Vokabulare ausprobiert, die einmal jenes literarische Vokabular ersetzen könnten, das wir heute ungefragt als das politische anerkennen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass der Gedanke, die Menschheit könne ein Leben ohne die unerschütterliche Gewissheit der Existenz Gottes gar nicht ertragen, gängige politische Münze war. Das ist vorbei. Dem Gedanken, ohne den Trost der Zugehörigkeit zu einer phantasmatischen Gemeinschaft sei menschliche Existenz unzumutbar, könnte es ähnlich ergehen. Die produktive Kraft der ironischen kulturellen Entortung bleibt nur verborgen, solange sie nicht anders denn als Defizit gedacht werden kann.