Der bekennende Sorbe

Der englische Schriftsteller Michael Gromm suchte eine neue Geschichte und fand 1992 das bedrohte sorbische Horno. Morgen wird er nun im schwedischen Parlament für den Erhalt des Dorfes sprechen

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Am Anfang war ein Name – ein fiktiver. 1985 war der Schriftsteller Michael Gromm – Michael wie „Maikel“, denn Gromm ist Engländer – auf der Suche nach einem Namen für die Hauptperson seines ersten Romans. Diese sollte einen „europäisch klingenden“ Namen bekommen. Der 57-Jährige, der in den 70er-Jahren nach Deutschland kam, nahm eine Europakarte und landete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf der deutsch-polnischen Grenzstadt Guben, die auf der östlichen Seite Gubin heißt. Gromm, der wusste, dass sein Großvater Russe polnischer Nationalität war, fand Gefallen an dem polnischen Wort. So wurde die Figur des Joseph Gubin geboren.

Die unveröffentlichteGeschichte

Der Roman ist längst fertig. Nur veröffentlicht wurde er bisher nicht. Statt eines Verlegers hat Gromm jedoch etwas gefunden, was er gar nicht gesucht hat: wichtige Erfahrungen für sein Leben und Spuren der eigenen Vergangenheit. Das kommt daher, dass Gromm, der viele Jahre mit einer Deutschen an der hessischen Bergstraße lebte und nach der Trennung einige Zeit in Frankreich, Ungarn und England, sich seiner Romanfigur geografisch näherte.

„Ich muss nach Guben, ich muss einfach hin“, sagte sich Gromm, dem in seinen vielen Jahren im Westen aufgefallen war, dass sich dort das Interesse für den Osten in Grenzen hielt. Im September 1992 also machte er sich auf den Weg, um nun eine Familienchronik zu schreiben. Noch heute erinnert er sich genau an den ersten Tag in der Lausitz. Gromm erzählt, als ob es der Beginn eines Buches wäre: „Am 15. September 1992 kam ich gegen 22 Uhr in Guben an. Am nächsten Morgen las ich einen Artikel über Horno“. Gromm spricht in perfektem Deutsch mit dem für Engländer typischen Akzent. Bei der Frühstückslektüre erfuhr er von dem Braunkohleabbau und dem sorbischen Dorf, das seit Jahren der Kohle trotzt und 1993 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Gromm ist keiner, der lange fackelt. Eine Stunde später fuhr er nach Horno.

In der Dorfstraße setzte er sich auf eine Bank. Ein alter Mann nahm neben dem Fremden Platz und erzählte ihm von der Dorfgeschichte und der Angst der Hornoer, ihre Heimat zu verlieren. Das Festhalten des alten Mannes an „seinem“ Dorf und seinem Haus erinnerte Gromm an seine Mutter. Diese lebte zwar nicht in einem von der Braunkohle bedrohten Dorf, doch auch sie wurde in hohem Alter „umgesiedelt“. Aus der eigenen Wohnung in ein Seniorenheim und schließlich in ein Pflegeheim. Was diese Lebenseinbrüche für sie bedeuteten, hat er nie vergessen. „Was ist das für eine Gesellschaft?“, fragt Gromm. „Alten Menschen einen Umzug als Chance vorzugaukeln! Das verzeihe ich den Politikern nicht und erst recht nicht den Unternehmen, die damit Profit machen!“

Das neue Leben im Plattenbau

Gromm mietete sich in einem der DDR-typischen Plattenneubauten in Guben eine Wohnung, und wenige Monate später legte er die geplante Familienchronik auf Eis. Dafür hatte er mehrere Gründe: „Ich kann doch nicht ein Literaturprojekt machen, während die Menschen in Horno kämpfen.“ Und: „Ich muss es tun, weil es wichtig ist.“ Das mag daran liegen, dass Gromm, der in England als Steuer- und Unternehmensberater gearbeitet und sich später mit schöngeistiger Literatur und sich selbst beschäftigt hat, in Horno Dinge entdeckt hat, die sein Leben bisher nicht geprägt hatten: Bodenständigkeit und das Gefühl „das geht mich an“.

Also machte er Nägel mit Köpfen. Gromm wurde Vorsitzender des überparteilichen Aktionskomitees „Runder Tisch Zukunft Gubens“, Mitinitiator einer Bürgerinitiative gegen Braunkohletagebaue, Gründer der Jugendgruppe „Geil auf Horno“ und Ehrenbürger von Horno. Die Ehre besteht für ihn darin, „insbesondere dem Ortsvorsteher und dem Hauptamtsleiter in schweren Zeiten beizustehen“. Um sich gegen eine Enteignung gerichtlich wehren zu können, erwarb Gromm in Horno ein drei Quadratmeter kleines Stückchen Land.

Seitdem sich Gromm dem Kampf um Horno verschrieben hat, hat er kaum Zeit, als Übersetzer zu arbeiten. Längst hat er sich daran gewöhnt, bescheiden zu leben. Vor fünf Jahren zog er von Guben nach Berlin-Prenzlauer Berg in ein unsaniertes Haus, weil er in der Grenzstadt seinen Lebensunterhalt nicht verdienen konnte. Doch fast jede Woche fährt er in die Lausitz, denn Horno ist seine Heimat geworden. Den Ratschlag seines Arztes, etwas kürzer zu treten, hat Gromm in den Wind geschlagen. Er hat sich mit der seit zwei Jahren auftretenden chronischen Erschöpfung arrangiert. Denn es gibt keine Pillen gegen den „unmenschlichen Druck“, die ihm die Bagger verursachen, die sich nur noch 1.300 Meter von Horno entfernt durch das Erdreich fressen. Entschädigt wird Gromm durch eine „große Zufriedenheit, sich für andere einzusetzen“.

Die nächtlichen Anrufe und Morddrohungen

Das Engagement des Engländers stieß jedoch nicht überall in der Lausitz auf Zustimmung. Denn bei der Lausitzer Braunkohle AG (Laubag), die den Brennstoff für das nahe gelegene Kraftwerk Jäntschwalde fördert, stehen viele Menschen in Lohn und Brot. „Diese Leute wurden jahrelang für dumm verkauft und gegen die Hornoer aufgewiegelt“, zeigt Gromm Verständnis für Angriffe gegen seine Person. Und deshalb ließ er sich später auch nicht von zerschnittenen Autoreifen einschüchtern. Als er nächtliche Anrufe mit Morddrohungen erhielt, beruhigte sich der Schreiber mit Rotwein.

Die vielen Jahre der Lebenspanik

Um seinen Gegnern wiederum den Wind aus den Segeln zu nehmen, verschweigt Gromm nicht den dunklen Fleck in seinem Leben, der immer wieder gegen ihn ins Spiel gebracht wird. Er nennt ihn die „negative Biografie“ und erzählt von „einer Zeit der Lebenspanik“ Ende der 80er-Jahre in Westdeutschland. 1993 endeten die Jahre in einem Prozess wegen Betrugs und einer Bewährungsstrafe. „Man muss offen und ehrlich mit der eigenen Vergangenheit umgehen“, sagt Gromm. Nur so kann er weiter für Horno kämpfen. Das tat er dann auch in zahlreichen Talkshows.

Mitte der 90er-Jahre – Gromm saß wieder einmal als Sprecher der Hornoer in einem Fernsehstudio – passierte nach der Sendung etwas, das er einfach „wunderbar“ nennt. Ihn erreichte die Nachricht, dass seine Frau am Telefon sei. Obwohl Gromm längst geschieden war und ihn seine Ex „auch zu besten Ehezeiten“ nie nachts angerufen hatte, ging er ans Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Eveline Gromm, geboren in Guben. Sie erzählte ihm von einem Großonkel namens Emil Gromm, der in einem Dorf im heutigen Polen eine Mühle habe.

Michael Gromm war schon über ein altes Ortsverzeichnis auf den ehemaligen Mühlenbesitzer gestoßen. Doch als er sich am nächsten Tag mit der Anruferin traf, stellte er zu seiner großen Überraschung fest, dass diese seiner Schwester zum Verwechseln ähnelt. Michael Gromm – inzwischen zur Hauptfigur seiner eigenen Geschichte geworden – machte sich auf Spurensuche. In der alten Mühle fand er unter Dreck und Mäusekot vergilbte Zettel und Briefumschläge mit der Aufschrift „Emil Gromm, Mühlenbesitzer“. 1999, als keine Zweifel mehr an seinen sorbischen Wurzeln bestanden, legte Gromm schließlich ein Bekenntnis zum Sorbentum ab. Seitdem sieht er sich als englischer Schriftsteller sorbischen Ursprungs.

Das Märchen über die schwarzen Steine

Je mehr Michael Gromm in die eigene Geschichte eintauchte, umso engagierter wurde sein Kampf für den Erhalt von Horno – trotz gelegentlicher „Frustrationen“ über erfolglose Klagen gegen die Beeinträchtigung der sorbischen Identität, wenn man die Hornoer Dorfgemeinschaft zerstöre. Sein Antrieb: „Wir haben keine Macht, aber Widerstandskraft.“ Die findet sich auch in den zwei Büchern, die Gromm über Horno herausgebracht hat – darunter das hübsche Märchen „Im Schatten der schwarzen Steine“. Wie das bei Märchen so ist, endet das Buch mit einem Sieg. Damit es auch im wahren Leben vielleicht noch ein Happyend gibt, hat Gromm einen neuen Plan entwickelt. Morgen wird er vor schwedischen Politikern reden – bei einer öffentlichen Anhörung im Parlament (siehe Kasten).

Zur Vorbereitung der Anhörung hat er eine Broschüre verfasst und ins Schwedische übersetzen lassen. Zwei Mal war er in Stockholm, um Abgeordneten verschiedener Parteien den „Fall Horno“ zu erklären. „Die meisten reagierten mit Entsetzen“, jubelt er. Und wieder geschah ihm etwas Wunderbares. „Ich erfuhr, dass die Schweden den Begriff Sorben nicht kennen, dafür aber den der Wenden!“ Die Sorben nennen sich in ihrer Sprache Wenden. „Von 1540 bis 1973 waren schwedische Könige die Könige von Schweden, Goten und Wenden“, erzählt Gromm und ist überzeugt, einen Bogen von der schwedischen Geschichte zur deutschen Gegenwart schlagen zu können.

Ein Teil von Gromms Taktik besteht darin, der schwedischen Regierung und Vattenfall klar zu machen, dass der Preis der Abbaggerung von Horno ein sehr hoher sei: der des Imageverlustes. In einem internationalen Aufruf heißt es: „Der Öffentlichkeit soll deutlich gemacht werden, dass die Zerstörung von sorbischen – und anderen – Dörfern in Deutschland im krassen Gegensatz zu Schwedens langjährigem Ruf für Umweltschutz, soziale Gerechigkeit und Menschenrechte steht.“ Zufall oder nicht: Am Tag der Anhörung hat Michael Gromm Geburtstag. „Ich könnte mir kein schöneres Geburtstagsgeschenk vorstellen“, freut er sich.

Der intellektuelleDruck

Selbst wenn das erhoffte schwedische Veto ausbleiben sollte, wird sich Michael Gromm nicht als Verlierer fühlen. Denn gewonnen hat er bereits in den vergangenen Jahren. „Horno hat mein Leben verändert“, sagt er. Gromm, der in Horno zwar seinen zweiten Wohnsitz hat, weiß, dass es bei ihm nicht um Haus und Hof geht. Aber auch er leidet. „Unter einem intellektuellen Druck“, wie er es nennt. „Dieser Druck entsteht, wenn man jahrelang gegen das Lügen ankämpft und mit angepassten, mutlosen Politikern, skrupellosen Unternehmen und verantwortungsscheuen Richtern zu tun hat.“ Dadurch ist der Schriftsteller um eine Erkenntnis reicher geworden: „Ich bin absolut überzeugt, ein Einzelner kann in der Gesellschaft etwas bewirken.“ Das mag kitschig klingen, ist aber wahr.