american pie
: Die Chicago Cubs warten seit 93 Jahren auf den Titel

Wann kippt das Glas um?

Chicago im September: Noch ist es recht warm, aber vom Lake Michigan weht bereits eine unangenehm klamme Brise. Der Sommer geht, das Ende der Baseball-Saison naht – und die Cubs verlieren. Nichts Neues für deren Anhänger. Der amerikanische Präsident hieß Theodore Roosevelt, als es zum letzten Mal Grund zum Jubeln gab. Man schrieb das Jahr 1908, als die Chicago Cubs ihre zweite World Series hintereinander gewannen. Seitdem wird gewartet in Chicago. Und gelitten. Und mittlerweile fast schon lustvoll jede kleine Katastrophe registriert.

Am Montag geschah es wieder: Die Cubs verloren bei den Houston Astros. Was an sich nichts Außergewöhnliches gewesen wäre. Aber das Wie war würdig, in die Geschichte der Cubs einzugehen. Denn die Cubs führten kurz vor Schluss, als Moises Alou für die Astros einen eigentlich harmlosen Flugball schlug, der in jedem anderen Stadion ein leichtes Aus gewesen wäre. In Houstons nagelneuem und ziemlich kleinem Enron Field aber flog der Ball bis zur Wand, die das Außenfeld begrenzt, traf dort einen Sims, auf dem die Anzeigetafel steht, und hüpfte von dort in die Zuschauerreihen: Homerun für Alou, Sieg für die Astros und die Chancen der Cubs, die Playoffs zu erreichen, sind fast auf null gesunken.

So wird eine eigentlich hoffnungsvoll verlaufene Saison mal wieder typisch enden. Monatelang führten die Cubbies ihre Division der National League an und schienen auf dem besten Weg in die Playoffs. Doch in den letzten Wochen verspielten sie mit einer Mischung aus Unvermögen und Pech nahezu alle Möglichkeiten, den Fluch loszuwerden, der seit nun bald einem Jahrhundert auf den Cubs zu liegen scheint. „Ein Optimist sieht ein Glas Wasser und denkt, es ist halb voll“, schrieb einmal Mike Royko, mittlerweile verstorbener Kolumnist der Chicago Tribune, „ein Pessimist denkt, es ist halb leer. Und ein Cubs-Fan denkt: Wann kippt es um?“

Kein Team im US-amerikanischen Profisport wartet schon so lange auf eine Meisterschaft wie die Chicago Cubs. Andererseits: Nicht jeder scheint darüber allzu unglücklich zu sein. Längst schon hat sich ein Typus des Cubs-Fans entwickelt, der sich in der Rolle des ständigen Underdogs ganz wohl fühlt, fröhlich meckert und schimpft und jedes neue Versagen des geliebten Teams mit geradezu masochistischer Freude zur Kenntnis nimmt. Auch nach schier endlosen Niederlagenserien strömen noch mehr als 35.000 ins Wrigley Field, das als klassisches, altmodisches Baseball-Stadion selbst eine Attraktion ist und aufgrund der entspannten Stimmung der Anhänger auch „The Friendly Confines“ genannt wird. Auf der anderen Seite der Stadt dagegen, im Norden, werden die ähnlich erbärmlichen Chicago White Sox für schlechte Leistungen auch mit minimalen Zuschauerzahlen bestraft.

Auf ihren Internet-Seiten, die dem „Fußabtreter der National League“ gewidmet sind, listen Cubs-Anhänger nicht nur die Statistiken jeder mies verlaufenen Saison auf, sondern auch all die kleinen Katastrophen, unerklärlichen Einbrüche, fürchterlichen Spielereinkäufe und tragischen Geschichten, die sich in 93 Jahren im Tabellenkeller nun mal zwangsläufig ansammeln. So die von Ernie Banks: Der so genannte Mr. Cub war nicht nur der erste Afroamerikaner, der nach Überwindung der Rassentrennung im Baseball für den Chicagoer Klub spielte, sondern ging mit 512 Homeruns als vielleicht bester Short Stop aller Zeiten in die Baseball-Geschichte ein. Und als bester Spieler, der niemals in einer World Series spielen durfte. Sein Fehler: Er trat 18 Jahre lang ausschließlich für die Cubs an.

THOMAS WINKLER