: „Boulevard Stuckrad-Barre“
Benjamin von Stuckrad-Barre wird Fernsehgastgeber. Und ehrbar. Auch wenn er ab morgen erst mal vor grölenden MTV-Kids sitzt: In Wahrheit will er Reich-Ranicki ablösen. Oder Biolek. Oder alle beide
von HARALD KELLER
Ausnahmsweise möchte man mal etwas hören von Benjamin von Stuckrad-Barre, und dann sagt er nichts. Ab morgen präsentiert er die für ihn maßgeschneiderte Sendung „MTV Lesezirkel“. Wenig war im Vorfeld zu erfahren darüber, was in dieser vorerst zwölfteiligen Sendereihe en detail vonstatten gehen soll. MTV verwies auf die Produktionsfirma, die in allen Belangen freie Hand habe. Dort bekam man erklärt, es gebe „ein kleines Problem. Das besteht darin, dass Benjamin von Stuckrad-Barre erst die Pressearbeit machen will, kurz bevor die Sendung startet oder während die Sendung gestartet ist.“ Eine wenig zweckdienliche Strategie, denkt man nur mal an Publikationen mit längerem redaktionellen Vorlauf. Aber derzeit herrscht generell Auskunftsstopp im Umfeld Stuckrad-Barres, der sich zwecks Herstellung eines neuen Buches zurückgezogen hat. Seine Agentur lässt sich selbst unverfängliche Fragen zum Werdegang schriftlich einreichen, um sie trotzdem nicht zu beantworten.
So viel Zurückhaltung kennt man nicht von dem notorischen Buchmacher – mindestens eins pro Jahr ist sein erklärtes Lebensziel –, der bislang noch wahllos in jedes aufscheinende Rampenlicht drängte. Der 1975 geborene Stuckrad-Barre schrieb für die taz und den deutschen Rolling Stone, verrichtete einige Nebentätigkeiten in der Plattenindustrie und beim Fernsehen, ehe er 1998 mit seinem Buch „Soloalbum“ reüssierte, das etwas vermessen als Roman geführt wird. Mit Buchtiteln wie „Livealbum“ und „Remix“ bemühte Stuckrad-Barre Analogien zu der von ihm zu Journalistenzeiten gründlich durchleuchteten Musikbranche. Seine Lesereisen wurden zu Massenveranstaltungen, die durchaus wunschgemäß spätestens dann einen popkonzertanten Rahmen bekamen, wenn die andrängende Masse, wie in Hamburg geschehen, mit Schutzgittern in Reih und Glied gezwungen werden musste.
Stuckrad-Barres Wechsel zum Talkshow-Vorsitz wurde seit langem prophezeit, nimmt doch das Fernsehen in seinem Werdegang nahezu gleich großen Raum ein wie die Wortsetzerei. Kurzzeitig arbeitete er als Redakteur für Friedrich Küppersbuschs „Privatfernsehen“, ab 1998 diente er als Gag-Lieferant der „Harald Schmidt Show“. Strategisch kluge Bekanntschaften: Schmidt stand seinem Mitarbeiter bei der Vermarktung von „Soloalbum“ zur Seite, Küppersbuschs Firma Probono produziert heuer den „MTV Lesezirkel“.
Seinen Einstand als Buchautor gab Stuckrad-Barre als Aufmerksamkeit heischender Branchenrowdy. Er sandte markige Injurien in die Welt, prahlte in Interviews mit dem sich selbst attestierten Talent und bewarf der Vollständigkeit halber in einer Talkshow einen alten Mann mit Babypuder. Die Sache gelang nach Wunsch. Stuckrad-Barres Bücher laufen gut, die Tourneen auch. Mittlerweile muss der scheckheftgepflegte Tausendsassa – Popstar-Schicksal – damit leben, seinerseits Gegenstand der von ihm vormals mit Vorliebe ausgeschlachteten Klatschgazetten und Zielscheibe deftiger Scherze geworden zu sein. Dem Satiremagazin Titanic unterlief der im Nachhinein bedauerte Irrtum, den Namen Stuckrad-Barres mit Fotos ihm entfernt ähnelnder Zeitgenossen, die zufällig alle des Mordes angeklagt wurden, in Verbindung zu bringen. Es hätte schlimmer kommen können, denn schließlich besteht Verwechslungsgefahr auch mit dem Stimmungssänger Stephan Remmler. Doch Stuckrad-Barre, an der Mimose getroffen, ließ gerichtliche Schritte einleiten, nach der wenig Popstar-gemäßen Devise: „Ich habe Rechtsschutz – and I know how to use it!“
Wie anders klang das noch, als er nach dem Erscheinen von „Soloalbum“ einem Interviewer einbläute: „Jeder hat ein Recht darauf verarscht zu werden.“ Oder der Ausruf von seinem Lesungsmitschnitt „Bootleg“: „Man muss auch mal anecken, gerade in der Unterhaltungsliteratur!“ Bezogen war er auf eine gegen die Combo Pur und deren Sänger Hartmut Engler gerichtete Tirade, die wenig subtile Einschätzungen wie „totale Scheißband“ enthielt und mit einem beherzten „Da bleib’ ich bei“ bekräftigt wurde. Ein voreiliges Versprechen: Der früher so streitlustige Lärmbeauftragte ist kleinlaut geworden. Letztjährig entzog er sich einer von Johannes B. Kerner angezettelten Auseinandersetzung mit dem wie beschrieben geschmähten Hartmut Engler durch kurzfristige Absage und entschuldigte sich brav für seine Frechheiten; bei „B. trifft“ sah man seinen Kniefall vor der ehedem großzügig mit Häme bedachten Susan Stahnke.
Neuerdings reflektiert Stuckrad-Barre seine früheren Auftritte und Ausfälle vorgeblich selbstkritisch als Rolle, die zu spielen war, um der Öffentlichkeit zum Buch auch ein verkaufsförderndes Image zu liefern. Im jetzigen Stadium, die Fernsehkarriere vor Augen, wird ein anderes Image fällig. Zum Beispiel gilt es nach Marcel Reich-Ranickis entschiedener Abdankung das Amt des Fernseh-Literators mit Unfehlbarkeitsanspruch neu zu besetzen. Stuckrad-Barre wüsste sich bedarfsgerecht in Szene zu setzen. Auch die ARD, die stiekum nach einem Nachfolger für Alfred Biolek fahndet, sollte ihn im Auge behalten. Ein mit aristokratischer Noblesse geführter „Boulevard Stuckrad-Barre“ – das könnte was werden.
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