On top of the world

■ Eine persönliche Erinnerung an New York

Vor ziemlich genau fünf Jahren war ich mit Tanja, einer Freundin, in den USA. In Boston kauften wir uns bei einem Gebrauchtwagenhändler für 500 Dollar ein dunkelblaues 84er Chevy Coupé mit einer riesigen Beule auf der Fahrerseite. Damit fuhren wir die Ostküste hinunter. Wir blieben, wo es uns gefiel, schliefen auf Rastplätzen, Parkplätzen, Campingplätzen, mal unter freiem Himmel, mal im Auto. New York erreichten wir in der Nacht. Ich erinnere mich an das mulmige Gefühl, das uns beschlich, als uns der Sprit ausging und wir die mehrspurige Hochstraße verlassen mußten, um im nächtlichen Brooklyn eine Tankstelle zu suchen.In diesen Stunden bestand die ganze Welt nur aus Dunkelheit und den unzähligen weißen Lichterketten der Straßenzüge. Die ganze Erde, schien es, war betoniert. Wir fuhren endlos durch diese unwirkliche und unwirtliche Stadt, die keine Grenzen zu haben schien. Erst in New Jersey fanden wir, völlig übermüdet, einen Ort zum Schlafen auf dem Parkplatz eines Motels, zwischen zwei Sattelschleppern. Es war eine katastrophale Nacht. Das Rauschen des Verkehrs auf der nahen Straße riß niemals ab und die durchgängige Sitzbank des Chevys ließ sich nicht umlegen. Am nächsten Morgen wachten wir gerädert in einem klammen Auto auf, von dessen Scheiben das Kondenswasser rann. Wir frühstückten im Motel, stellten den Wagen dann auf einem riesigen bewachten Parkplatz ab und fuhren mit dem Bus nach Manhattan.

Der Himmel war strahlend blau, keine Wolke nirgends. Wir schlenderten die breiten Straßen entlang, auf denen die yellow cabs an uns vorbeihuschten. Ich ließ mir bei einem illegalen Glücksspiel im Hinterzimmer eines Ramschladens mehr als 100 Dollar aus der Tasche ziehen. Auf allen Plätzen, bei Denkmälern, Springbrunnen und in Parkanlagen, saßen Studenten und Tauben. Nach der letzten Nacht genossen wir die Wärme der Sonne und das entspannte Schlendern umso mehr. Aber unser Schlendern war nicht ziellos. Wir wurden wie magisch von der Südspitze Manhattans angezogen, wollten dorthin, wo man von der Uferpromenade aus die Freiheitsstatue sehen konnte und wo die Zwillingstürme des World Trade Centers aufragten. Dort mußten wir hinauf, das war uns klar, ohne daß wir uns vorher auch nur mit einem Wort darüber verständigt hatten.

Ich erinnere mich an die Eingangshalle, an all das Metall, das Glas und die Spiegel, an den roten Teppichboden. An die Fahrt mit dem Aufzug erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur noch, wie wir auf dem weißen Beton der Aussichtsplattform standen und ungläubig in die Straßenschluchten hinabstarrten, unseren Blick über den Hudson River und die Hafenanlagen bis zum Horizont schweifen ließen, einem Horizont, der ferner war als alle Horizonte, die ich bisher gesehen hatte. Wir haben einige Fotos dort oben gemacht. Ich habe sie hervorgekramt. Sie liegen auf dem Schreibtisch vor mir. Es sind insgesamt sieben. Fünf von ihnen sehen aus, als seien sie aus einem Flugzeug geschossen worden. Auf einem sieht man die Hängebrücken über den Hudson River, auf zwei weiteren blickt man Richtung Norden über den Kern Manhattans, der von unregelmäßigen Straßenzügen zerfurcht ist und von so weit oben an einen Steinbruch erinnert oder an ein Stalagmitenfeld. Es war später Nachmittag und die Stadt leuchtete rötlich im Licht der tiefstehenden Sonne. Auf einem Foto schimmern die Hafenbecken und der Fluß golden zwischen den schwarzen, unregelmäßig geformten Landzungen. Dann sind da noch zwei Fotos von Tanja und mir. Wir haben uns gegenseitig fotografiert, jeweils an der gleichen Stelle der weißen Balustrade lehnend, mit dem Rücken zum Abgrund. Unsere Haare wehen. Tanja trägt einen schwarzen, weiten Pullover und eine Kette mit einem Bernstein um den Hals. Die Trageriemen ihres kleinen Rucksacks sind rot und weiß gestreift. Ich trage eine schwarze Lederjacke und eine runde Nickelbrille mit rosafarbenen Gläsern. Meine Haare sind halblang und die Koteletten reichen bis unters Kinn. Ich sehe aus wie eine Mischung aus John Lennon und Glenn Danzig. Anhand der automatischen Numerierung auf der Rückseite der Fotos kann ich sogar die Reihenfolge ermitteln, in der sie geschossen wurden. Sie hat zunächst mich fotografiert und dann habe ich sie fotografiert.

Ich frage mich, was wohl in einigen Jahren an dem Ort sein wird, an dem wir damals standen. Ob die Türme wieder aufgebaut werden? Oder ob ein Denkmal an ihrer Stelle stehen wird, das mit einer Metalltafel an die Opfer des Terrors erinnert? Tim Ingold