Im Keller von Süd-Braunschweig

Das Redaktionsgebäude des „Wall Street Journal“ in Manhattan ist zerstört. Doch schon am Tag der Katastrophe produzierte eine Notredaktion die aktuelle Zeitung aus der Konzernzentrale in South Brunswick. Alle JournalistInnen haben überlebt

„Es war zum Verzweifeln. Der einzige Kontakt war per E-Mail“

aus New York DAVID SCHRAVEN

Die Redaktion des Wall Street Journal ist düster. Auf einem Schreibtisch steht das Foto einer glücklichen Familie, dicht überzogen mit Trümmerstaub. Ein Rechner summt in der Ecke, ein grünes Licht schimmert. Fenster sind zerbrochen. Zwei Männer in blauen Overalls schieben einen Industriestaubsauger vor sich her. Sie tragen beide weiße Atemschutzmasken.

Die Redaktion liegt in der Liberty Street – direkt gegenüber den Überresten des World Trade Centers. Wann die Räume wieder genutzt werden können? „Ende November . . . Was weiß ich.“ Stephen Adler ist stellvertretender Chefredakteur des wichtigsten Finanzblattes der Welt. „Die Leute, denen das Gebäude gehört, lassen es grade reinigen und Instand setzen. Wir wissen noch nicht einmal, wie groß die Schäden sind.“

Die Redaktion ist evakuiert. Eine Notbesetzung arbeitet in einem Kaff namens South Brunswick in New Jersey, fünfzig Kilometer südlich von Manhattan. Dort, auf der anderen Seite des Hudson River, ist der Sitz von Dow Jones & Company, dem Mutterverlag des Wall Street Journal, einem der fünfzig größten Medienunternehmen der Welt. Eine Ansammlung flacher Gebäude: Bäume, Wiesen, Bänke. Adler muss zweieinhalb Stunden jeden Tag hinüberpendeln. „Dafür haben wir aber wieder ein Großraumbüro, wenn auch im Keller.“

Am Tag X hat Adler lange gefrühstückt. Um halb neun geht er zu seiner U-Bahn-Station in der Upper West Side, eine viertel Stunde vor dem ersten Einschlag. Es ist ein heißer Tag. Er hat kein Jackett an, nur ein blaues Hemd. Einige Reporter sitzen im Cafe direkt vor dem World Trade Center; auf einen schnellen Cappuccino vor der Morgenkonferenz. Adler ruft einen von ihnen per Handy an, bevor er in die Bahn steigt. Der Zug braucht ungewöhnlich lange. Bleibt stehen, fährt weiter, unentschlossen. „Die Wall-Street-Station war schon gesperrt. Als ich endlich an der Chamber Street rauskomme, eine Station vor Wall Street, sehe ich die Twin Towers in Flammen stehen.“ Paul Steiger, der Chefredakteur des Wall Street Journal, ist in seinem Büro, als das erste Flugzeug in den Nordturm kracht. Er ruft James Pensiero zu sich, einen seiner vier Stellvertreter. Pensiero hat Erfahrung mit der Redaktionstechnik. Er war verantwortlich für die Einführung der neuen Software. Außerdem ist Pensiero ein News-Mann. Er kennt die Zeitungsproduktion in allen Einzelheiten. Steiger beauftragt Pensiero, die Notredaktion in South Brunswick aufzubauen. Eine Sicherheitskopie der Redaktionssoftware liegt bereit. Etwa zu der Zeit, als das zweite Flugzeug einschlägt, beginnt der Sicherheitsdienst die Redaktion zu räumen. Das Radio meldet, alle Zugänge zur Insel Manhattan würden gesperrt. Pensiero macht sich an die Arbeit. Er rennt zum Schreibtisch und schreibt E-Mails an technische Angestellte und Redakteure: „Sammelpunkt für die Notredaktion ist South Brunswick.“ An die Reporter schreibt er noch: „Recherchiert, was ihr für richtig haltet, und schreibt von zu Hause. Die Koordinierung übernimmt das Washingtoner Büro.“ Ein Wachmann zerrt Pensiero aus dem Gebäude.

Chefredakteur Steiger versucht, die Fähre nach New Jersey zu erreichen. Der letzte Redakteur sieht ihn am Gateway Plaza hinter dem World Trade Center, als der erste Wolkenkratzer einstürtzt. „Es war wie in Pompeji zum Zeitpunkt des Vesuvausbruchs.“ Steiger kommt nicht mehr zum Hudson. Nach einem Fußmarsch durch den Trümmernebel stößt er auf einen Bus, der Menschen nach Norden evakuiert. Zwei Stunden später ist Steiger zu Hause in der Upper East Side. Pensiero hat eine der letzten Fähren erwischt. Kurz nach 12 Uhr kommt er in South Brunswick an – und beginnt sofort mit der Arbeit. „Wir dachten, Paul Steiger ist tot.“

Wenige Stunden später steht die Notredaktion. Die Produktion der Zeitung beginnt. Unterdessen versuchen die Reporter und Redakteure heruszubekommen, wer lebt, was zur Hölle überhaupt los ist und wohin sie ihre Texte schicken sollen. Die Telefonleitungen brechen zusammen. Adler hat einen mobilen E-Mail-Rechner an seinem Gürtel. Er erfährt, dass sich die Mitglieder der Chefredaktion in der Wohnung von Byron Calame in der Upper West Side treffen. Von Steiger hat niemand was gehört.

Adler ist der letzte der vier Steiger-Stellvertreter, die in die Wohnung kommen. Sie arbeiten hektisch. Reporter melden sich per E-Mail. Einige verzweifelt: „Wen soll ich anrufen? Alle meine Kontaktleute waren im World Trade Center.“ Andere wollen helfen: „Was soll ich schreiben, gebt mir einen Auftrag, egal was.“ Adler versucht Pensiero zu erreichen. „Es war zum Verzweifeln. Wir kamen nicht durch. Der einzige Kontakt war per E-Mail.“ Endlich ein glücklicher Anruf. Pensiero verspricht, so schnell wie möglich die produzierten Seiten zu schicken.

Unterdessen erfährt auch Steiger, dass sich die Chefredaktion in der Wohnung von Calame getroffen hat. Er ruft an. Adler erinnert sich: „Wir waren so erleichtert, dass Paul lebt.“ Er hatte Tränen in den Augen. Kein Redakteur des Blattes ist unter den Vermissten.

Das Wall Street Journal erscheint am Mittwoch, den 12. September, pünktlich. Mit nur einigen Seiten weniger als üblich, denn die 18 Druckereien sind über die USA verteilt. Nur jeder zehnte Abonennt muss einen Tag nach dem Totalausfall der Redaktion auf seine Zeitung verzichten. Drei Tagen später werden wieder die üblichen 1,8 Millionen Exemplare der USA-Ausgabe gedruckt. Die Schlagzeile vom 12. September lautete: „Terrorists Destroy World Trade Center, Hit Pentagon in Raid With Hijacked Jets.“ Das Wall Street Journal hatte überlebt.