„Dschihad ist ein politischer Slogan“

Ein Interview mit dem somalischen Schriftsteller Nurrudin Farah über die Haltung des Islam zur Frage der Berechtigung von Gewalt und Vergeltung: „Die Schwachen bewegen sich auf eine komische, ungesunde Art.“

Vor allem Muslime haben unter den Fundamentalisten gelitten

taz: In Ihrem Buch „Vater Mensch“ befassen Sie sich mit dem Thema „Islam und Gewalt“, ein Thema, das aufgrund des Terroranschlags auf die USA besonders diskutiert wird.

Nurrudin Farah: Es geht darum, ob es legitim ist, Gewalt zu politischen Zwecken anzuwenden, ob es islamisch ist, einen Mord zu begehen, an jemandem, den du als ungerecht wahrnimmst. Im Islam ist das Töten einer unschuldigen Person auch deshalb ein Verbrechen, weil es gleichgesetzt wird mit der Ermordung der gesamten Menschheit. In jedem menschlichen Wesen ist die gesamte Menschheit präsent. Ich gebe darauf in meinem Buch keine kategorische Antwort, da ich literarisch die Zweifel verarbeite, die in meinem Denken vorherrschen. Aber unabhängig von dem Roman kann man diese Frage auch auf das anwenden, was in New York passiert ist.

Und die Antwort wäre dann?

Es ist nicht islamisch. Ich habe diesen Roman 1983 geschrieben, als Teil der Trilogie „Variationen über das Thema einer afrikanischen Diktatur“, in der ich mich aus verschiedenen Blickwinkeln mit der damaligen somalischen Militärdiktatur unter Siad Barre auseinandersetze. Die Frage ist: Ist es legitim, akzeptabel im Islam, Gewalt anzuwenden, um eine Diktatur zu stürzen. Um diese Frage zu beantworten, muss man zuerst andere Fragen klären: Über welche Art von Diktatur reden wir? Wer ist die Person, die für die Sache kämpfen will? Hast du selbst ein reines Gewissen? Wenn das der Fall ist, geht es um das Motiv: Verhält diese Person sich inhuman, also „unislamisch“, denn islamisch bedeutet „rein, pur, friedlich“.

In ihrem Buch „Vater Mensch“ stellt sich die Frage: „Würde einem von Gott vergeben werden, wenn man sich ihm stellt, nachdem man den Diktator umgebracht hat? Sieht man die USA als „Weltdiktator“, wie es Fundamentalisten tun mögen, stellt sich hier eine ähnliche Frage?

Es gibt eine klare Aussage: Gewalt wird im Islam nicht vergeben, sie wird immer bestraft. Die Taliban sind unislamisch. Keine islamische Gemeinschaft, nicht einmal der Iran, akzeptiert das Verhalten der Taliban. Aber lassen Sie mich noch etwas zum Fundamentalismus generell sagen: Mehr Muslime haben unter den Fundamentalisten gelitten als Nichtmuslime, mehr als die Amerikaner – ohne dass das Wort „Dschihad“ fällt. Der Begriff ist ein Jargon, ein Slogan politischer Parteien. Der Angelpunkt ist aber nicht die Religion, sondern die Gewalt. Wenn man im Mittleren Osten die Religion außen vor ließe, würde der Begriff Dschihad gar nicht auftauchen: „Gewalt“ würde einfach „Gewalt“ bleiben. Der Begriff fällt erst, wenn es gegen Nichtmuslime geht.

Haben Sie Verständnis für die Fundamentalisten?

Der islamische Fundamentalismus entsteht auf einem bestimmten Nährboden. Es ist ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Und ich würde mit den Fundamentalisten übereinstimmen, was die Ausgangsbasis, die Kritik an ihren eigenen zerrütteten, repressiven Regimen anbelangt. Mein Widerstand, wenn ich dort leben würde, wäre aber säkularistisch motiviert. Sie bewegen sich dagegen in Richtung Religion und Gewalt. Es ist eine Religion von Eiferern. Diese Leute gehen Jahrhunderte zurück, als der Prophet Mohammed den Glauben begann, als ob sie selbst die Initiatoren einer neuen Religion wären. Als ob sie einen neuen Glauben zum Vorschein brächten, da alle anderen gescheitert sind. Als wäre sie die einzigen Bannerträger.

Hans Magnus Enzensberger hat kürzlich geschrieben, eines der Probleme des Islam insgesamt wäre, dass er schon lange keine produktiven Ideen mehr entwickelt habe und sich daher „ausschließlich in der Negation der Moderne erweise“.

Ich würde es nicht so ausdrücken. Aber der Islam wurde nach der Niederlage gegen die Kreuzzügler zu einem besiegten Glauben – während Europa es schaffte, einen Modus Vivendi mit der Religion zu finden und Ideen des Säkularismus zu entwickeln. Später kamen die europäischen Staaten, die bereits säkularisiert waren, in die Türkei, nach Afghanistan, den Mittleren Osten, überallhin, wo die Religion unberührt geblieben war. Diesem Kolonialismus widersetzten sich Menschen als Muslime. Es ist also in erster Linie eine antikolonialistische Einstellung, die bis heute fortdauert. Und manche haben die Kolonialisten durch die Amerikaner ersetzt.

Gegen was wehren sie sich?

Gegen jemanden mit andersartigen Vorstellungen, die er ihnen auferlegen will. Und die Amerikaner sehen sich ja selbst auch als Bannerträger.

Nach den Anschlägen taucht bei westlichen Kommentatoren, aber auch bei Afrikanern wie Okwui Enwezor, dem Leiter der nächsten documenta, die These vom „Clash of Civilisations“ auf.

Es ist die Arroganz der judäo-christlichen Welt, anzunehmen, es gäbe einen solchen Zusammenprall. Das Problem im Nahen Osten ist ein territoriales, ein Problem der Vorherrschaft. Die Palästinenser sind nicht alle Muslime, das muss man im Hinterkopf behalten. Die Huntington-These funktioniert noch aus zwei anderen Gründen nicht. Erstens: Die Mehrzahl der Muslime überall auf der Welt hat eine tolerantere Einstellung gegenüber den Europäern, den Amerikanern und allen anderen, als die judäo-christliche Welt gegenüber den Muslimen. Zweitens: Die Mehrheit der Muslime weiß eine Menge mehr über die Bibel und das judäo- christliche Selbstbild als umgekehrt. Wie viele Deutsche, wieviel Christen kennen Sie, die den Koran gelesen haben? Ich kann Ihnen Millionen von Muslimen nennen, die die Bibel kennen? Der Grund, warum sich die Muslime ständig zu widersetzen scheinen, ist nicht die Religion, sondern: die muslimischen Nationen sind schwach. Und was tut der Schwache? Er verletzt sich in einem Konflikt mehr als den Gegner.

Das kann man bei dem Terroranschlag auf New York aber nicht sagen? Der hat ins Zentrum der Macht getroffen.

Er war aber nicht erfolgreich. Sonst hätten sich die Muslime nicht distanziert. Es geht nun aber – unabhängig vom Islam – um das grundsätzliche Problem der Vergeltung. Hannah Arendt und Karl Jaspers haben in ihren Schriften zum Nationalsozialismus dieses Problem aufgegriffen: Ist es möglich, eine Gruppe von, sagen wir, einhundert Verbrechern, die für den Tod von 6 Millionen Menschen verantwortlich sind, ausreichend zu bestrafen? Was soll man mit Eichmann tun? Die Tat selbst ist so viel größer als jede Bestrafung, die man ihm auferlegen könnte. Die Drahtzieher müssen selbstverständlich gestoppt werden, damit sie keine weiteren Gräueltaten begehen. Aber diejenigen, die sie bestrafen wollen, müssen auch gewarnt werden hinsichtlich der unschuldigen Menschen, mit denen diese Leute sich umgeben. Afghanistan ist bereits in die Steinzeit zurückgebombt. Wenn es darum geht, die Taliban loszuwerden, muss man sich gut überlegen, wie?

Der 11. September hat nachhaltige politische Folgen. Auch in Deutschland, das grundsätzlich für begrenzte Zuwanderung optiert, geben die Terroranschläge Rückenwind für Forderungen, diese Zuwanderung weiter zu erschweren. Haben Sie dafür Verständnis?

Nein. Die Deutschen gehen überallhin auf der Welt. Wer das tut, muss auch der Welt erlauben, zu ihm zu kommen. Aufgrund der Anschläge in den USA die Tore zu schließen, kann nur mehr Schwierigkeiten bereiten.

Konkret speist sich die Diskussion daraus, das am Anschlag beteiligte Attentäter, in Hamburg studiert haben. Solchen Terrorzellen will man vorbeugend begegnen ?

Wie sollte das funktionieren?

Durch die Anschläge und die bevorstehenden Reaktionen ist Afrika aus der internationalen Agenda nahezu herausgefallen. Sehen Sie darin eine Gefahr für den Kontinent?

Afrika ist das größte Opfer dieser Gewalt, der Logik Bin Ladens: Bei den Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Daressalam und Nairobi starben nur wenige Amerikaner, dafür aber fast 600 Afrikaner. Wie viele Menschen haben sich etwas daraus gemacht?

Wie kommt es, dass andererseits im afrikanischen Nigeria die Gewalt zwischen Muslimen und Christen als Erstes ausgebrochen ist?

Die Gewalt wurde vom Militär des Landes orchestriert. Es gibt dort eine zivile Regierung, und die Militaristen wollen diese Regierung zerstören. Eine Art, das zu tun, ist, sektiererische Gewalt zu schüren, insbesondere weil der Premierminister, ein Exgeneral, Christ ist. Sie wollen ihm das Regieren so schwer machen, dass das Militär sagen kann, die Situation sei zu unsicher, sie müssten die Macht wieder übernehmen. Die Ursache des Konflikts hat mit Macht zu tun, nicht mit Religion oder Kultur.

Dennoch braucht man Leute, die den Konflikt austragen.

Sicher. Man gibt dieser Gruppe Gewehre, dann jener. Gewöhnlich setzen sich solche Gruppen aus unterprivilegierten Menschen zusammen. Die Leute, die kämpfen, sind selten aus der Mittelklasse. Sie gehören alle zum „Proletariat“, es sind einfache Leute, denen man sagt: „Das ist der Mann, der dir deinen Job wegnimmt.“ Die Schwachen bewegen sich auf eine komische, ungesunde Art. Sie gehen nie geradeaus. Und sie töten sich öfters gegenseitig.

Interview: MARTIN HAGER