Greise Kinder ohne Visionen?

■ Stimmt nicht: „Der Traum ist aus – Die Erben der Scherben“

Alle haben dazugelernt in den letzten drei Wochen. Über etwas, das zwar „logistisch gesehen eine Meisterleistung ist“, das man aber nicht Kunstwerk nennen darf, über Betroffenheit, die in schlechte Musik umgewandelt wird, über Lieder, die man nicht mehr spielen darf, weil sie zum Beispiel „Ob la di ob la da, life goes on“ heißen. Alle sitzen mit leichten Depressionen in Wohnungen oder Talkshows herum und sind sich einig, dass ein Großteil der Menschheit schon immer ausgebeutet wurde, man es aber nicht ändern kann.

Rio Reiser von Ton Steine Scherben sang einst „Halleluja, der Turm stürzt ein“ und wäre nun wohl genauso schockiert, wenn er es noch erlebt hätte. Ob er jedoch genauso gelähmt wäre, ist fraglich. Zu einer anderen Zeit haben die Scherben das Gefühl der Machtlosigkeit in eine Forderung umformuliert: „Keine Macht für niemand!“ Heute gibt es mit der Forderung „Enduring Freedom“ eine freie Fahrt in den Krieg.

Der einzige Sänger, der das Wort „frei“ jemals so berührend gesungen hat, dass man nicht kotzen muss, war Rio Reiser. Wenn er in dem Film Der Traum ist aus – Die Erben der Scherben singt „wir sind geboren, um frei zu sein“, dann hebt er sich mit seiner verzweifelt-tröstenden Kraft über den Marlboro-Mann und alle Euro-Träume hinweg.

Die Desillusionierung der von Regisseur Christoph Schuch ausgewählten Erben der Scherben ist das eigentliche Thema des Films. In der Erinnerung an die Scherben, die für manche eine Art Initialzündung waren, Musik zu machen, werden die befragten Bands zu ehrfürchtigen greisen Kindern, die von ihren Träumen und Visionen nur in der Vergangenheitsform reden. Die Bands, etwa Die Sterne, Tocotronic, Britta oder Element of Crime geraten dabei zu kritiklosen Achselzuckern in einer zu komplexen Welt. Dabei hätte wahrscheinlich jede dieser Bands zum jetzigen Zeitpunkt etwas anderes erzählt.

Doch was ist heute politisch, kann man einen eigenen Ausdruck schaffen, der jenseits der Verflechtungen von Leben-Müssen und Dagegen-Sein existiert? Warum wird bei Britta aus Berlin ihr sehr wohl politisches, weil feministisches Engagement weggelassen, und was ist mit Bands wie den Goldenen Zitronen, Blumfeld oder mit Jan Delay? Der Film zeigt die Lähmung der 00er Jahre so perfekt, dass selbst Tocotronics hilflos-leidenschaftlicher Schrei nach einer Jugendbewegung nichts daran ändern kann.

Bernadette Hengst

täglich, 22.30 Uhr, 3001