Geschichte schreiben

Michel Foucault: Eine offene Tagung zum 75. Geburtstag des Poststrukturalisten im Warburg-Haus  ■ Von Roger Behrens

Einen Personenkult wollte der 1984 an der Immunschwäche AIDS verstorbene Philosoph Michel Foucault nie; vielmehr hoffte er auf das Verschwinden des Autors, wollte der „Philosoph mit der Maske“ sein. Anlässlich seines 75. Geburtstages wird nun ganz ohne biografische Mode sein kritisches Werk diskutiert, letztes Wochenende in Frankfurt, heute und morgen im Warburg-Haus in Hamburg: Eine Tagung, der es um die Möglichkeiten geht, „foucaultsches Denken in Geschichtsschreibung einzubringen, aufzuzeigen und zu diskutieren“.

Zur Moderne gehört die Idee einer Universalgeschichte, die Idee einer großen Erzählung der Vergangenheit, in die nach dem Bild des bruchlosen Fortschritts Ereignisse in Daten festgehalten und überliefert werden: das ist die Geschichte der berühmten Männer, der Herrscher und Kriege. Gleichwohl gehört zu den Erfahrungen der Moderne, dass diese Idee der Universalgeschichte einerseits ideologisches Trugbild ist, andererseits – als solche Ideologie – Instrument der Unterdrückung. Trugbild, weil spätestens seit dem fabrikmäßigen Massenmord der NS-Zeit die Vorstellung einer fortschreitenden, gar vernünftigen Entwicklung zum Besseren nicht mehr haltbar ist. Unterdrückung, weil im Namen dieses Hirngespinstes des Fortschritts eine Geschichtserzählung behauptet wird, in der das Leben der Milliarden Opfer und Entrechteten nur beiläufig Erwähnung findet.

Eine kritische Geschichtswissenschaft hat dem in den letzten Jahrzehnten versucht beizukommen, indem sie der Individualgeschichte zum Ausdruck verhalf; eine „oral history“ sollte die Stimme des Alltäglichen ins Recht setzen, die Cultural-, Gender- und Postcolonial-Studies korrigierten schließlich noch die Vorstellung, es gebe überhaupt historisch Agierende; mit dem Ergebnis vieler kleiner, aber machtvoller Geschichten des Empowerments und der Subversion.

Die herrschende Geschichtsschreibung ist die Geschichte der Herrschenden; ihre Logik ist allerdings strukturell, setzt sich auch jenseits personaler Gewalt durch. Michel Foucault spricht hier von einer Macht, die sich praktisch in unzähligen Diskursen manifestiert: Es sind Diskurse, die uns normieren und disziplinieren, die in den Gefängnissen, Schulen, Krankenhäusern genauso wirken wie sie unser Alltagshandeln und unser Selbstverhältnis bestimmen.

Gleichwohl gibt es in dieser „Mikrophysik der Macht“ (Foucault) die Möglichkeit, die Verhältnisse umzukehren, sich die Macht zu verschaffen und den Diskurs der Unterdrückung in einen Diskurs der Befreiung umzukehren. Aber, das ist die Aufsehen erregende These Foucaults gewesen: die Macht selbst ist nicht abschaffbar. Eine solchermaßen struktural begriffene Macht bleibt Teil eines Netzes, Totalität.

Wie zum Beispiel der globale Sicherheitsdiskurs nach dem 11. September mit dem polizeilichen Ordnungswahn des neuen Hamburger Rechtsblocks und eben der Normierungsgewalt und Selbstkontrolle der einzelnen Bürger zusammenhängen könnte, wie sich aber auch eine Gegenmacht in diesen verschiedenen Kraftfeldern des Diskurses formulieren ließe, dafür hat Foucault insbesondere in seinen kleineren Schriften und Interviews, die er als Werkzeugkasten verstanden wissen wollte, Argumente an die Hand geliefert. In der Buchreihe „Short Cuts“ hat der 2001-Verlag solche zum Teil bisher nicht in Deutsch veröffentlichten Texte zusammengestellt.

Auf dem Programm der Hamburger Tagung stehen heute Vorträge von Ulrich Brieler, Hannelore Bublitz, Martin Dinges, Juergen Martschukat, Claudia Bruns und Philipp Sarasin; es geht um einen geschichtskritischen Blick in die Sozialhygiene und in die Geschichtswissenschaftselbst, wobei die Frage der diskursiven Konstruktion des Menschen im Vordergrund bleibt. Am Sonnabend wird das Programm mit Vorträgen von Maren Moehring, Heiko Stoff, Susanne Krasmann, Peter Becker, Olaf Stieglitz und Norbert Finzsch fortgesetzt und thematisch auf Aspekte der für Foucault zentralen „Dispositive der Macht“ Sexualität und Rechtsnorm konzentriert.

Tagung „Geschichte schreiben mit Michel Foucault“: heute, 5. und morgen, 6. Oktober, jeweils ab 9.30 Uhr, Aby-Warburg-Haus (Heilwigstr. 116); die Teilnahme ist gebührenfrei

Michel Foucault, Short Cuts (Bd. 3), hg. von Peter Gente, Heidi Paris u. Martin Weinmann, Frankfurt am Main 2001