Großmeister gratis

Im Rahmen der diesjährigen Festwochen wird Luciano Berios hyperreferenzielle Werkreihe „Sequenze“ aufgeführt

Am Ende muss man sich fragen, ob ein markttaugliches Profil nicht eine notwendige Bedingung für musikalischen Erfolg ist. Ob ein Komponist nicht erst dort gefeiert und umjubelt wird, wo er zuvor auf ein verkaufstüchtiges Prädikat zurecht gestutzt worden ist. Die Musik Luigi Nonos zum Beispiel wird gerne auf Begriffe wie „politische Musik“ und „Klangsinnlichkeit“ reduziert. Solche Kategorien sind keine bloßen Schubladen; es sind Angebote an den Hörer, Leitfäden beim Zugang zu einem noch fremden Oeuvre und vielleicht wichtiger noch: gute Argumente für Marktstrategen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen: György Kurtág schreibt „Miniaturen“, Stockhausen ist ein Idiot usw.

Was aber macht man mit einem Komponisten, der sich in Ermangelung eines gestandenen Profils schlecht verschlagworten lässt? Luciano Berio ist einer der wenigen Komponisten, die nie aufgehört haben, neue Fragen zu stellen, die sich mit den ästhetischen Komplexitäten anderer Komponisten beschäftigt haben und die kaum auf Eckdaten zu reduzieren sind. In den Fünfzigerjahren galt sein Interesse der Elektronik, nachdem er 1955 das erste Studio Italiens ins Leben gerufen hatte. In den Sechzigern widmete er sich vornehmlich der menschlichen Stimme, wesentlich motiviert durch die Ehe mit der Sopranistin Cathy Berberian. Seit den Achtzigern klopft Berio die Geschichte auf ihre Gültigkeit hin ab, indem er Partituren von Brahms, Mahler und Schubert mit eigener Musik überschreibt.

Nun ist Berio beileibe kein krasser Außenseiter der Musikgeschichte. Aber angesichts der Integrität seiner ästhetischen Entwürfe und der Souveränität seines Handwerks muss er doch als ein vernachlässigter Großmeister gelten. Was aber soll man auch anfangen mit einem Komponisten, auf den vor lauter Verbindlichkeit nicht einmal der Begriff „postmodern“ so recht zu passen scheint? Vielleicht aufführen, dachten sich zumindest die Veranstalter der Festwochen und programmierten einen kleinen, erlesenen Zyklus, der sich Berios wohl wichtigster Werkreihe widmet seinen „Sequenze“.

Die „Sequenze“ sind vielleicht die einzige echte Konstante im Oeuvre Berios. Die Reihe der Solostücke, es sind derer zwölf, umspannt einen Zeitraum von dreißig Jahren: das Flötenstück „Sequenza I“ entstand 1958, die „Sequenza“ für Gitarre 1988. Vermutet man hinter diesen Stücken einen Katalog zeitgenössischer Virtuosität, dann liegt man so schief nicht, sofern man Virtuosität nicht mit Geläufigkeit verwechselt. Berio verlangt weniger, dass die Instrumentalisten einen Knoten ins Instrument spielen, als dass er den Witz und die musikantische Intelligenz der Interpreten herausfordert. Die Musiker sind auf sich selbst gestellt, eine Situation musikalischer Isolation zu lösen. Am überzeugendsten und plastischsten geschieht das in dem Stück für Stimme mit kruden Wechseln zwischen manischen, naiven und divaesken Qualitäten.

Kurios bleiben die äußeren Umstände dieser Veranstaltungsreihe: man testet nicht nur die Konzerttauglichkeit der Friedrich-Ebert-Stiftung und die Chill-Out-Qualitäten der Musik Berios (die Konzerte beginnen um dreiviertel elf), sondern auch den Bedarf an Nachfrage bei unverhältnismäßigem Angebot (die Konzerte kosten Besucher nichts).

Der Gratis-Eintritt ist umso erstaunlicher, als die Interpreten, denen ja jeweils nur ein kurzer Soloauftritt zusteht, zu den Ikonen ihres Faches zählen: Heute Abend ist es der Trompeter Bill Forman, am Montag Akkordeonguru Teodoro Anzellotti, am Dienstag Gitarrenpapst Jürgen Ruck. BJÖRN GOTTSTEIN

Bis 9. 10., jeweils 22.45 Uhr, Friedrich-Ebert-Stiftung, Hiroshimastr. 17, Berlin-Tiergarten