Straight aus dem Schwarzsauer

Die Putzfrau auf dem Reichtag, der Adlershofer Busen und andere Geschichten: Der Autor David Wagner und der Fotograf Erik-Jan Ouwerkerk haben ein Berlinbuch veröffentlicht. Es ist eine persönliche Bestandsaufnahme der Veränderungen in der Stadt und lenkt den Blick auf die Details des Alltags

von JAN BRANDT

Am Pissoir steht ein junger Mann mit einer selbst gehäkelten Mütze auf dem Kopf und belügt seine Freundin. Das Handy hat er zwischen Wange und Schulter geklemmt, um beide Hände frei zu haben. Er sagt: „Ich sitze gerade im Schwarz-Sauer.“ Tatsächlich sitzen im Café „Schwarz-Sauer“ an der Kastanienallee Touristen, Studenten, Mädchen mit Sporttasche und der Schriftsteller David Wagner ohne Sporttasche.

Im letzten Jahr hat er den viel beachteten Roman „Meine nachtblaue Hose“ veröffentlicht, in dem es um eine Jugend in Westdeutschland geht, um „Nutellakinder und Niveatöchter“ und um die Macht der Vergangenheit. Gerade ist ein neues Buch von ihm im Nicolai-Verlag erschienen, das den schlichten Titel „David Wagner in Berlin“ trägt. Es enthält kurze Texte über Tiergartengänger, Christina Rau im Tunnel, Wolfgang Joop, Benni Beimer und über Begegnungen mit Frauen, die Reingard heißen oder die andere als „Agenturschlampen“ beschimpfen und selbst in der Werbung arbeiten.

Vor allem aber schreibt David Wagner über Orte, über die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz zum Beispiel, über die Friedrichstraße, einen alten Zentralviehhof mit Darmschleimerei und den „Adlershofer Busen“. Nahezu jedem Text ist ein Schwarzweiß-Foto von Erik-Jan Ouwerkerk beigegeben. Der gebürtige Niederländer lebt seit 1987 in Berlin und arbeitet für viele verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Die Bilder, die er für das Buch ausgewählt hat, halten zum Teil die gleichen Beobachtungen fest wie die Texte David Wagners, was verwunderlich ist, weil sie unabhängig von diesen entstanden sind: ältere Reisende etwa, die im Nikolaiviertel den Riesenteddybären über die Ohren streichen oder Parkbesucher mit Teleskopfernrohren. Manchmal sind Text und Bild auch rein assoziativ verknüpft, neben einem mit „Kuchen im Aquarium“ überschriebenen Stück findet sich das Foto von einem Nilpferd im Zoo, das unter Wasser einen Jungen anschaut wie ein fremdes, harmloses Wesen.

Der heute 31jährige David Wagner ist vor zehn Jahren von Bonn nach Berlin gezogen wegen einer Liebe, die dann doch nicht gehalten hat. „Aber die Stadt ist ja groß genug“, sagt er gleich hinterher, als wolle er das Thema damit beenden. Dafür erzählt er, wo er überall gewohnt hat: in Wilmersdorf, Charlottenburg, Kreuzberg und seit kurzem in Prenzlauer Berg. „Hier“, sagt David Wagner, „gibt es die besseren Kindergärten.“ Ein Faktor, der wichtig geworden ist, seit seine Tochter Marie da ist. Mehrmals hat er vorher versucht, der Stadt und dem Land zu entkommen, hat eine Zeit in Paris verbracht und seine Magisterarbeit geschrieben, ist nach Barcelona gezogen und von dort nach Mexiko-Stadt, wo die ersten Seiten seines Romans entstanden, weil durch die Entfernung plötzlich alles viel klarer wurde, Berlin, Deutschland, Westdeutschland, die eigene Geschichte.

Zurück in der neuen Hauptstadt, macht er sich auf den Weg. Am ehemaligen Checkpoint Charlie, dort, wo einst die Grenze verlief, spürt er, wie der Boden zittert, in der „Weltbühne“, dem „leersten Lokal Berlins“, isst er zu Abend und im „Kumpelnest“ lässt er sich nicht anbaggern, sondern zieht sich in eine Nische zurück, beobachtet, schreibt. Er stellt fest, dass sich die Gebäude in der Friedrichstraße „wie riesige polierte und zu eng aneinander gesetzte Grabsteine in den märkischen Sand“ ducken und dass sich Christina Rau in dem nach ihr benannten Tunnel nicht von Schildern wie „Erektor“ und „Schildschwanzmessung“ irritieren lässt. Die meisten Texte sind Beiträge, die er über einen Zeitraum von zwei Jahren für die Berliner Seiten der FAZ und den Tagesspiegel geschrieben hat. Für das Buch mussten sie überarbeitet und aktualisiert werden, die Baustellen am Potsdamer Platz sind inzwischen Richtung Mitte abgewandert und der Lesesaal der Staatsbibliothek ist zur Zeit geschlossen, um neue Computerterminals einzurichten.

Aber, das, was Wagner geändert hat, erweist sich schon mit Erscheinen des Buches als überholt. „David Wagner in Berlin“ ist ein Buch, das es eigentlich gar nicht geben dürfte, weil die Texte, die darin versammelt sind, mit der Geschwindigkeit der Stadt nicht mithalten können. Die Flittchen Bar im Maria hat schon länger ihren Betrieb eingestellt und auch die Rostlaube an der FU wird es nach dem Umbau durch den Architekten Sir Norman Foster nicht mehr geben. So entpuppen sich diese distanzierten Ortsbegehungen wieder als eine Art persönliche Bestandsaufnahme der Veränderung, eine Reise in die eigene Vergangenheit. Trotzdem haben sich David Wagner und Erik-Jan Ouwerkerk einen erstaunten und erstaunlichen Blick für die Alltäglichkeit bewahrt und entdecken in dem, was anderen selbstverständlich ist, versteckte Rituale und kleine, unscheinbare Details wie die Putzfrau auf dem Reichstag, die wieder ganz andere, neue Geschichten ergeben.

„David Wagner in Berlin“. Mit Fotografien von Erik-Jan Ouwerkerk, Nicolai-Verlag Berlin 2001. 153 Seiten, 29 DM