Alter Charme in neuen Gräben

Grachten, die der Moderne weichen mussten, sind verschwundene Denkmäler. In Holland ist man sich des Sündenfalls der Vergangenheit bewusst. Nicht nur in Amsterdam, wo seit 1845 insgesamt 70 Kanäle zugeschüttet wurden, gibt es Bestrebungen, das Wasser in die Stadt zurückzuholen

Wasser als ästhetische Ergänzung, für die Einrichtung eines Wohngebietes

von HENK RAIJER

„Ausgraben? Unsere Straße? Bloß nicht! Die Palmgracht war eine Kloake, diesen Gestank kann doch nicht ernsthaft jemand wiederhaben wollen, oder?“ Kopfschüttelnd schiebt die Alte ihren Einkaufsbuggy die grüne Zugbrücke über die Brouwersgracht hinauf. Auf einem vertäuten Kahn unter ihr spielen zwei Männer Karten, trinken Bier in der sengenden Mittagshitze. Ein kurzes Anlehnen in der Brückenmitte, dann lenkt die Frau ihren über das Pflaster rumpelnden Wagen in die Stille der Palmgracht und verschwindet in eines der schmalgiebligen Häuser, die für das Amsterdamer Viertel Jordaan so charakteristisch sind.

Mief, Typhus, Cholera – und Ratten, die die Uferstraßen der Palmgracht bevölkern könnten. Jos Otten kennt die Argumente, die vor allem ältere Anwohner immer wieder ins Feld führen, seit der Verein „Freunde der Amsterdamer Innenstadt“ (vvab) seine Kampagne für die Flutung der Straße führt. „Der Witz ist, dass die Leute, die sich jetzt so vehement gegen die Aushebung der Palmgracht sträuben, ein solches Szenario selbst gar nicht mehr erlebt haben“, sagt der 59-Jährige lächelnd, während er entspannt an einer Gaslaterne lehnt, die hier früher mal den Kai beleuchtet hat. „Die Palmgracht wurde schon 1895 zugeschüttet.“

Jos Otten, der neben seiner Tätigkeit als Direktor der maritim-technischen Hochschule Amsterdam viel Zeit in die Initiative steckt, geht es nicht um Nostalgie, sondern um die Wiederherstellung einer gewachsenen Infrastruktur und Lebensqualität. „Amsterdam, das heute von seiner Identität als Wasserstadt, von seinem berühmten Grachtengürtel lebt, hat im 19. und 20. Jahrhundert 70 Grachten zugeschüttet, 11 davon allein im Arbeiterviertel Jordaan – alles im Namen des Fortschritts“, erklärt der groß gewachsene Mann, der im spätkolonialen Surabaya geboren wurde und seit nunmehr 30 Jahre ein Haus in der Palmgracht bewohnt. „Heute, wo wir Kanalisation haben und die Gesundheit nicht mehr durch stehendes, verunreinigtes Wasser bedroht ist, wo aber die Wohnqualität im Viertel durch den Verkehr stark abgenommen hat, ist Umdenken gefragt. Wir müssen das Wasser in die Stadt zurück holen.“

Umgerechnet 14 Millionen Mark würde das Ausbuddeln der 200 Meter langen ehemaligen Wasserverbindung zwischen Brouwersgracht und Lijnbaansgracht kosten. Laut einer Umfrage, die Otten und seine Mitstreiter im letzten Sommer der Stadträtin für Denkmalpflege und öffentlichen Raum angeboten haben, sind 68 Prozent der Innenstadtbewohner Amsterdams dafür. Und die Regierungsfraktionen zeigen sich durchaus aufgeschlossen. Jos Otten aber weiß: „Schön ist kein Argument. Für die Stadt muss sich das rechnen.“

Asphaltierte Grachten sind verschwundene Denkmäler – zu dieser Erkenntnis gelangen in Holland immer mehr Stadtväter. Gouda, Den Haag und Breda etwa haben seit Jahren Pläne für eine Umgestaltung ihrer autogerechten Innenstädte in der Schublade. Lokalpolitiker wissen aus den Erfahrungen von Delft und Amsterdam, dass Grachten und Binnenhäfen nicht nur den Charme einer Innenstadt erhöhen, sondern durch den Fremdenverkehr auch die Wirtschaft ankurbeln.

Rückendeckung erhalten die Kommunen vom niederländischen Umweltministerium. Dessen Experten haben die Bedeutung von Wasser als rekreative oder ästhetische Ergänzung, wenn nicht gar als städtebauliche Basis für die Einrichtung eines Wohn- und Gewerbegebiets längst erkannt. Nach Dafürhalten der Ministerialen sollte die rein technische Herangehensweise der städtischen Wasserwerker (Kanalisation, Trinkwasseraufbereitung) in Zukunft viel stärker mit dem ästhetischen Ansatz der Städteplaner verzahnt werden, die mit Wasser die Lebensqualität in Hollands Städten erhöhen wollen.

Bislang lassen Lokalpolitiker aus Rücksicht auf mächtige Interessengruppen oftmals den Mut vermissen, solch einschneidende Veränderungen umgehend in Angriff zu nehmen. Nicht selten scheitert es auch am Geld. In Utrecht indes wird gebuddelt: Seit Februar 2001 wühlen sich die Bagger im Rahmen der Innenstadtsanierung durch Asphalt und Beton, um die Singel, die im Mittelalter der Verteidigung der Stadt diente, schiffbar zu machen. Bald wird es wieder möglich sein, Utrecht mit dem Boot zu umrunden und aus allen Windrichtungen in das Herz der alten Domstadt zu gondeln.

Ein Traum, der bald auch in Drachten in Erfüllung geht. Spätestens 2006 dürften die ersten Boote mit stehendem Mast die verlängerte Drachtstervaart hinunter segeln und wie früher die Torfkutter im Kern der friesischen Stadt anlegen. Treibende Kraft hinter dem Projekt, das der 43.000-Einwohner-Stadt im Nordosten der Niederlande die Anbindung an die friesischen Seen bringen wird und Touristen in den Ort ziehen soll, ist Raumordnungsstadtrat Ines Pultrum. „Es hat sieben Jahre und viel Überzeugungskraft gekostet, die Konservativen in der Gemeinde für die Öffnung der Vaart zu gewinnen“, erzählt der gebürtige Friese. Gerade die älteren Anwohner des Moleneind, der Straße, die wieder Ufer werden soll, hätten sich nur ungern an den Gestank des Kanals erinnert, der 1966 geschlossen wurde. „Aber ihr Widerstand hat unseren Ehrgeiz nur beflügelt“, sagt Pultrum, ein schlanker Mittvierziger mit blondem Schnauzbart, der mit einigem Stolz jedem, der Interesse zeigt, die Maquette erklärt, die sein Amt in der Rathauslobby aufgestellt hat. Sie zeigt ein 400-Millionen-Mark-Projekt, in dessen Rahmen die Verlängerung der Drachtstervaart nur ein, wenn auch integraler Bestandteil ist. Wo jetzt noch Werkstätten, Schrebergärten und eine Sondermülldeponie gelagert sind, entstehen nach Sanierungsarbeiten bis 2006 insgesamt 900 Wohneinheiten unterschiedlicher Prägung und Preisklasse, aber alle mit Zugang zum Wasser.

Wo bis 1966 eine Zugbrücke über die Drachtstervaart den Norden mit dem Süden der Stadt verband, prägt heute ein Freiluft-Glockenspiel die Kreuzung der Fußgängerzone. Die Inschriften auf den rostbraunen Trägern des Gerippes erinnern an die Blütezeit der Torfindustrie Anfang des 19. Jahrhunderts, als die ländliche Region die Städte Amsterdam, Rotterdam und Den Haag mit Brennstoff versorgte. Das „Carillon“, das zu jeder vollen Stunde mit seinen hellen Klängen auch Eilige in seinen Bann zieht, markiert den Endpunkt des künftigen Kanals, dessen früherer Verlauf durch die Senke in der Straßenmitte deutlich erkennbar ist. Auf 900 Metern soll das „Mûneein“, wie die Straße Moleneind auf Schildern auch auf Friesisch ausgewiesen ist, in einer Breite von neun Metern ausgehoben werden.

Der umtriebige Stadtrat ist überzeugt: „Der Kanal bringt nicht nur die Häuser und Geschäfte am Moleneind besser zur Geltung, er bietet auch jede Menge Anlegeplätze für Bootsbesitzer, die vom vier Kilometer entfernten Jachthafen hier einkaufen kommen.“ Das ziehen zumindest einige Ladeninhaber stark in Zweifel. Schneidermeister Koos Bakker etwa ist skeptisch, nicht nur was die von Stadtrat Pultrum in Aussicht gestellte Kundschaft betrifft. Der pausbäckige Mittfünfziger will gar nicht wissen, „was da noch für ein Zeug unter der Straßendecke liegt. Wegen mir können sie den Graben dicht lassen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die braunen Viecher damals über die Ufer rannten. Vielen Dank!“ „Rausgeschmissenes Geld“, findet Peter vom Naturkostladen „De Wigter“. Zwar sehe das Moleneind hinterher bestimmt schöner aus als heute. Aber wirtschaftlich sei es eine „gigantische Fehlinvestition“. Urlauber segelten doch nicht in eine Sackgasse und dann fünf Kilometer zurück, meint der junge Mann in Latzhosen und Holzschuhen. Und Touristen? „Ach was, hier ist doch nichts zu sehen. Drachten ist keine hübsche Festungsstadt wie Kampen.“

Die entsinnt sich derzeit des Sündenfalls der Sechzigerjahre, als der Hafen der historischen Stadt an der Ijsselmündung einem Parkplatz weichen musste und die Stadtgracht verkehrskonform verschmälert wurde. Viel hätte nicht gefehlt und die Burgel, die zu Zeiten der Hanse zusammen mit dem Fluss eine Verteidigungslinie bildete, wäre ganz geopfert worden. Seit Herbst letzten Jahres wird in dem 32.500-Einwohner-Ort, der mit seinen mächtigen Kirchen, Stadttoren und dem Rathaus aus dem 15. Jahrhundert ein wichtiges Kulturerbe darstellt, das alte Hafenbecken ausgehoben. Knapp 5,5 Millionen Mark kostet das EU-geförderte Projekt. „Wir investieren damit in die Zukunft“, sagt Projektmanager Bert van Essen, der um die Bedeutung eines Jachthafens in seiner Stadt weiß, die nur wenige Flusskilometer vom Ijsselmeer entfernt liegt. Er bedauert, dass Kampen den Anschluss der Gracht an die Ijssel aus Kostengründen verschoben hat. „Die Wiederbelebung der Burgel würde die Beziehung der Stadt zum Wasser noch optimieren.“

Solange die Wirtschaftlichkeit Priorität hat, erwartet auch Jos Otten für Amsterdam keine schnellen Lösungen. „Es wird zunehmend schwieriger, das Erbe der Stadt zu schützen. Vor allem, wenn nicht alle Anwohner einer Straße an einem Strang ziehen“, sagt Otten, während er im Vorbeigehen den Nachbarn auf der Wohnarche grüßt, die genau dort „vor Anker“ liegt, wo früher die Palmgracht in die Lijnbaansgracht mündete. „Der lebt schon Jahrzehnte dort und will nicht weg – verständlich, aus seiner Perspektive.“ Er, so Otten, habe eine andere: „Die Innenstadt Amsterdams, die heute unter Denkmalschutz steht, wurde seit Trockenlegung der ersten Gracht im Jahre 1845 systematisch beschädigt. Aus Unwissenheit. Und das müssen wir jetzt reparieren.“