: Daumen für David
David Beckham schießt England gegen Griechenland zur WM und ist endgültig der Liebling der Nation
MANCHESTER taz ■ Als der Schiedsrichter die Partie abpfiff, vergaß Otto Rehhagel für einen Moment, dass er Trainer der griechischen Nationalelf ist. In diesem Augenblick war er einfach nur Deutscher. Mit strammen Schritt und gesenktem Blick hastete er schnurstracks und alleine in die Umkleidekabine, eine traurige Gestalt, während seine Elf noch fröhlich auf dem Rasen des Old Trafford Stadions ihren Erfolg auskostete; zu Recht, wie selbst Rehhagel fand, weil „das eine Riesengeschichte ist, ein Unentschieden gegen England“. Doch er, der Deutsche, war „total enttäuscht“. Mit dem überraschenden 2:2 in Manchester hatte Trainer Rehhagel seinen patriotischen Beitrag geleistet, Sekunden später erfuhr er, dass die Deutschen seine Hilfe nicht angenommen hatten.
Irgendwann in den nächsten Tagen, wenn er einfach mal vergisst, dass er Deutscher ist, sollte Otto Rehhagel nachträglich einmal in die Luft springen. Denn der Samstag war einer der feinsten Fußballnachmittage des 63-Jährigen, der mit Bremen und Kaiserslautern dreimal deutscher Meister war. Bis Samstag hatte Griechenland eine desaströse WM-Qualifikation gespielt, das erste Spiel unter Rehhagel war der Gipfel: 1:5 gegen Finnland. In Manchester war sein Team nicht wiederzuerkennen.
Defensiv in einem 5-4-1-System exzellent organisiert, flogen sie immer wieder zu zielstrebigen Angriffen aus. Angelos Charisteas brachte nach gut einer halben Stunde mit einem strammen Schuss die 1:0-Führung, und selbst als der eingewechselte Teddy Sheringham nach 67 Minuten mit seiner ersten Ballberührung den Ausgleich köpfte und ihn Old Trafford minutenlang mit Gesängen von „Oh Teddy, Teddy, Teddy-Bear“ feierte, drehten die Griechen noch einmal den Ton im Stadion ab, Stürmer Themis Nikolaidis brachte die erneute Führung. Ungefähr 30 Sekunden vor Abpfiff erfuhr Englands Trainer Sven-Göran Eriksson, Deutschland gegen Finnland sei aus, 0:0, und er hatte gerade noch lange genug Zeit, sich zu fragen: „Ist das möglich? Wir verlieren, wenn ein Unentschieden genügt?“ Dann traf Beckham, und alles war anders.
Der Jubel nach dem Schlusspfiff war die beeindruckendste Szene des englischen Teams an diesem Nachmittag. Die Spieler liefen eine Ehrenrunde, und 66.000 Zuschauer feierten so ekstatisch, dass man sich fragte: Was ist erst los, wenn sie mal wirklich etwas gewinnen? Dass sie seit 1966 nie mehr ein WM- oder EM-Finale erreichten, hat die Besessenheit nur noch größer gemacht. Nach dem 5:1 über Deutschland und der nun gelungenen Qualifikation glaubt das selbst ernannte Mutterland des Fußballs, es sei im Wunderland.
Dabei bestätigte die Partie gegen Griechenland, dass England nicht so gut ist, wie viele glauben. Die Ergebnisse in den ersten zehn Monaten unter Eriksson sind beeindruckend, fünf von sechs Qualifikationsspielen wurden gewonnen, und an individueller Klasse gemessen, ist dies die beste Ansammlung von Spielern, die England seit 30 Jahren hat – angeführt von Beckham, der am Samstag für sieben arbeitete. Doch besitzt Erikssons England bislang weder die Souveränität noch die Raffinesse, die etwa das – individuell weniger begabte – England 1998 unter Trainer Glenn Hoddle hatte. Und der Eindruck verstärkt sich, dass Eriksson für die Beschränktheit des Teamspiels verantwortlich ist. Er beharrt darauf, lange Bälle auf die Stürmer zu schlagen und in der Defensive ohne Pressing auf den Gegner zu warten. Wie ideenlos England in Manchester agierte, war erschreckend.
Aber nahm das irgendeiner am Samstag nach Abpfiff noch wahr? England träumt mal wieder. „Ich fahre durch London, und die Leute strecken mir den Daumen entgegen“, sagte David Beckham, der noch vor zwei Jahren vor allem den Neid der Nation spürte. „Doch, doch: Ich bin mir sicher, es ist der Daumen, nicht der Mittelfinger.“
RONALD RENG
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