: Koalitionspalaver in Quetta
Die afghanische Opposition versucht in langer Diskussion, eine Struktur für die Zeit nach den Taliban herauszuarbeiten
aus Quetta BERNARD IMHASLY
Wer sich in diesen Tagen im Haus 103 Satellite Colony Nr. 4 in Quetta umsieht und umhört, könnte meinen, die Taliban-Führer in Kandahar – vier Fahrstunden westlich von Quetta – seien bereits Geschichte. An zwei Abenden hintereinander war die Eingangshalle im modernen Wohnhaus von Hamid Karazai mit Schuhen, „Peshawari Sandals“ und „Baluchi Chappals“, übersät. Deren Besitzer saßen in den fünf großen Räumen, als wären sie in Nomadenzelten: Ausgestreckt auf Matten entlang der vier Wände lehnten die Afghanen gegen die runden Kissen, bewegten die Gebetsschnüre oder strichen ihre Bärte glatt, während der zierliche junge Safar Mühe hatte, die Tassen mit Grüntee nachzufüllen und die gezuckerten Mandeln weiterzureichen.
Die Gäste kamen von überallher: Ein Stammesführer aus Nordafghanistan, ein ehemaliger Mudschaheddinkommandant und seine „Offiziere“, afghanische Transporteure und Händler aus Karachi, ein „Bazaari“ aus Kandahar und zwischen ihnen würdige alte Männer, die der Konversation schweigend zuhörten. Und diese kreiste nur um ein Thema: die politische Gestaltung Afghanistans nach den Taliban.
Der Moderator
Der Mittelpunkt der Gesprächsrunden in den verschiedenen Räumen war der Hausherr Hamid Karazai, ein etwa 65-jähriger hagerer Mann mit Vollglatze und der altmodischen Grazie eines Stammesfürsten. Er ging von einem Raum zum andern, setzte sich zu seinen Gästen, verschwand manchmal mit einem Stammesführer in einem Nebenzimmer, flüsterte einem Vertrauten etwas ins Ohr, erhielt kleine Zettel zugesteckt, bevor er sich „für zehn Minuten“ entschuldigte, um im nächsten Raum dasselbe Ritual aufzunehmen. „Die Entwicklung läuft zu rasch voran. Dennoch müssen wir sie noch vorantreiben, denn wenn einmal die Taliban nicht mehr da sind, muss ein klarer Weg vorgezeichnet sein. Sonst haben wir plötzlich wieder Pakistan als Spielverderber in unserer Mitte.“ Wichtigstes Thema bei diesen Palavern war die eben besiegelte Vereinbarung zwischen König Sahir Schah in Rom und der Delegation der „Nordallianz“, die sich fortan „United Front“ nennt. Die Wahrscheinlichkeit eines vielleicht entscheidenden Schlags gegen die Taliban hat den ganzen „Tribal Belt“ auf beiden Seiten der Grenze förmlich aufgeschreckt, und sie erklärt, warum Hamid Karazai in den letzten Wochen jeden Tag ein volles Haus hatte. „Ich komme nicht einmal mehr zu meinem Abendspaziergang“, meinte er zerknirscht.
Karazai ist der Sohn des Stammesführers eines großen Paschtunenclans und war während der Sowjetbesatzung mit der „Nationalen Islamischen Front“ liiert. Während der vier Jahre Regentschaft von Professor Rabbani (1992 bis 1996) war er kurz Vizeaußenminister und knüpfte damals gute Beziehungen mit westlichen Politikern und Afghanistanspezialisten. Er pflegte enge Kontakte mit dem König im Exil, als 1992 erstmals die Idee einer „Loya Jirga“ zur Diskussion stand. Als sich dann in den letzten Jahren immer mehr zeigte, dass die Taliban auf die Dauer dem Land keinen Frieden und keine internationale Anerkennung bringen würden, wurde er zum Verfechter eines neuen Versuchs für eine traditionelle politische Lösung.
Die Versammlung
Die „Große Versammlung“ eines repräsentativen Querschnitts der einflussreichen Männer des Landes – Politiker, Mudschaheddinkommandanten, ehemalige hohe Beamte und Offiziere, Akademiker, Religionsgelehrte und natürlich die traditionellen Stammesführer – ist heute „die einzige Chance, um unser Land zu einen“. Der alternde König in seinem römischen Exil ließ sich zunächst zögernd in die Bewegung einspannen, und Karazai wurde zu seinem wichtigsten Vertreter in Pakistan. 1998 organisierte er in Deutschland eine Versammlung aller nationalen Kräfte, die einer „Loya Jirga“ nicht unähnlich war. Sie weckte damals wenig Aufmerksamkeit, wird aber nun im Rückblick zu einer wichtigen Veranstaltung, bei der erste Grundlagen für die politische Zukunft Afghanistans gelegt wurden. Es war bei dieser Gelegenheit, dass die Nordallianz und Vertreter Sahir Schahs erstmals Gespräche führten.
Karazai hatte damals auch die Taliban nach Deutschland eingeladen, ebenso wie, als Beobachter, Pakistan. Beide blieben dem Treffen fern. „Pakistan wies mich rüde ab und drohte mir mit dem Entzug meiner Aufenthaltsbewiligung.“ Heute, meint Karazai, würden die Taliban vielleicht anders reagieren. „Wir erhalten täglich Signale von Taliban-Führern, die uns sagen, dass sie bereit sind, sich uns anzuschließen.“ Und er bestätigt die Berichte, wonach in verschiedenen Provinzen wieder lokale „Schuras“, Ratsversammlungen, zusammengetreten sind, welche beginnen, offen Kritik an den Taliban zu äußern, besonders an deren Gastfreundschaft für saudische Kämpfer. Diese gemäßigten Taliban hätten einen Platz bei der Gestaltung eines neuen Afghanistan, und dies sei auch beim Abkommen zwischen der Nordallianz und dem König vom 1. Oktober ausdrücklich gesagt worden. „Aber die Taliban als Organisation, als Miliz müssen gehen.“
Karazai behauptet, Taliban-Führer Mullah Omar stütze seine Macht heute nur noch auf die Saudis. Und Ussama Bin Laden, sagt er, habe mit seinem Handeln „mehr Afghanen auf dem Gewissen als Amerikaner“. Die Frage allerdings, ob er eine amerikanische Intervention begrüßt, gibt er lieber an Haji Khair, den Führer des Ishakzai-Stamms aus der Provinz Kunduz weiter. Diesen kümmern diplomatische Feinheiten nicht: „Na klar, sie würden uns nur helfen, uns dieser unliebsamen Ausländer zu entledigen.“ Doch die Meinungen darüber sind ambivalent. Die Afghanen sehnen eine Intervention herbei, beklagen das bisherige Desinteresse der Welt („nachdem wir ihr den Kommunismus vom Hals geschafft haben“) – und wollen dennoch allein gelassen werden.
Angst vor Doppelspiel
Angst haben sie heute nicht so sehr vor den Taliban, sondern vor Pakistan. „Sie sind fähig, uns auch heute wieder auszutricksen“, sagt Aziz Qazi, bis vor drei Jahren Botschafter der Rabbani-Regierung in Warschau. Für ihn sind die Taliban ein Produkt des pakistanischen militärischen Geheimdienstes ISI. „Vor sieben Jahre kamen sie zu uns nach Quetta, mit einigen Taliban-Führern und dem Schwiegersohn von Exilkönig Sahir Schah im Gefolge. Sie wollten unsere Unterstützung, bevor sie die Religionsschüler nach Afghanistan schickten. Sie sagten: ‚Seht, diese Kämpfer haben den Segen des Königs.‘ Und kaum waren sie in Kandahar, ließen sie die Maske fallen.“ Dass der militärische Oberbefehlshaber der Nordallianz Ahmed Schah Masud vom ISI beseitigt wurde, ist für ihn eine ausgemachte Sache. Und er nimmt auch das Gerücht ernst, wonach der ISI heute an einem Komplott gegen Mullah Omar arbeitet, um mit gemäßigten Taliban-Führern das Regime zu retten. Jedermann scheint besessen von Pakistan und dessen „Doppelspiel“.
Der Einwurf, dass Islamabad auch Ängste wegen seiner fragile Westgrenze und der Wichtigkeit eines freundlichen Regimes im Rücken habe, wird zurückgewiesen. „Wenn Islamabad doch nur verstehen würde, dass ein unabhängiges Afghanistan der beste Garant für Pakistans Sicherheit ist“, sagt Qazi vorwurfsvoll. „Aber sie können das Verschwörerspielen nicht lassen.“
Karazai verliert seine Contenance ein bisschen, wenn die Rede auf die tribalen Zerwürfnisse in der afghanischen Opposition kommt. „Ihr Journalisten redet immer von Tadschiken und Paschtunen und Hazaras und Usbeken. Seht ihr denn nicht, dass wir alle für Afghanistan kämpfen – selbst die Taliban“, und die Diskussion mäandert wieder dem Thema des allgegenwärtigen Gegners zu. Aber gerade als er den Raum einmal mehr verlassen will, kommt er darauf zurück: „Tribalismus ist unsere größte Stärke – und unsere größte Gefahr. Wir müssen sehr aufpassen“. Es ist ein offenes Geheimnis, dass zwischen Kandahar und Jalalabad, Quetta und Peschawar, zwischen den Durrani-Clans im Süden und den stärker islamisch ausgeprägten Afridis Rivalitäten bestehen, und diese dürften nun aufbrechen, wenn es darum geht, die Kommission zu bestimmen, welche die „Loya Jirga“ vorbereitet. Karazai begrüßt die Sammelbewegung, die sich in Peschawar um den Mudschaheddinführer Abdul Haq bildet und behauptet, mit ihm in Kontakt zu sein. Deshalb, anerkennen alle Anwesenden, ist die Rolle von Sahir Schah so wichtig. „Aber nur wegen seiner Persönlichkeit“, sagt Qazi und fügt kategorisch hinzu: „Die Monarchie hat in Afghanistan keine Zukunft mehr, da sind sich alle einig.“
Der Weg zum Konsens
Wie denn der Prozess für eine „Loya Jirga“ vonstatten geht, lautet eine weitere Frage. „So“, sagt Karazai lächelnd und weist mit einer Kopfbewegung in die Runde. An vielen Orten fänden zur Zeit solche Zusammenkünfte statt. Es sei kein formeller Prozess, sondern ein allmähliches Herauskristallisieren der Personen und Themen. „Dass Ismael Khan (der Anti-Taliban-Führer aus Herat) teilnehmen wird, steht außer Frage. Er ist ein verdienter Kommandant und Stammesführer. Bei Abdul Raschied Dostam ist man sich noch nicht sicher. Er ist einer der Führer der Nordallianz. Aber gleichzeitig werfen ihm Leute seine pro-kommunistische Vergangenheit vor. Es wird sich allmählich erweisen.“ Exdiplomat Qazi fügt hinzu: „Der Prozess ist mindestens ebenso wichtig wie die endgültige Liste. Denn in diesen Diskussionen bildet sich auch schon ein Konsens darüber heraus, was die ‚Loya Jirga‘ dann beschließen wird.“ Bei den Diskussionen und gemeinsamen Essen, möchte man hinzufügen. Jeder Abend in der „Satellite Town“ endet um ein auf dem Boden ausgespanntes weißes Tuch, auf dem der dienstfertige Safar Pilawreis und Hammelfleisch, Joghurtschüsseln und Brote ausgelegt hat.
Am zweiten Abend allerdings verlässt der Hausherr die Tischrunde früher: „Ich muss noch arbeiten, denn ich fliege morgen früh nach Rom – falls die Pakistaner mich ausreisen lassen.“
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