Bitte keine Wangenküsse

Willy Brandt war Bundeskanzler und Frauenheld, SPD-Chef und Friedensnobelpreisträger. Dennoch ist dem Historiker Gregor Schöllgen das präzise Psychogramm eines Gescheiterten gelungen

„Jedes Leben ist von innen gesehen nichts weiter als eine Kette von Niederlagen“

von DANIEL KOERFER

Kein anderer Politiker hat die Menschen in der Bundesrepublik so berührt wie Willy Brandt. Er war der einzige Kanzler, dessen Vorname als Wahlslogan taugte, von seinen keineswegs nur weiblichen Anhängern skandiert wurde und schließlich sogar einer ganzen Bundestagswahl das Etikett lieferte: der „Willy-Wahl“ 1972. Begeisterte Zustimmung, regelrechte Euphorie vor allem bei jüngeren Wählergruppen, auf der linken Seite des politischen Spektrums, auch in Teilen der DDR verstand er zu wecken, während man ihm die politischen Gegner und die Älteren vielfach mit großer Skepsis, ja regelrecht mit Hass und Verachtung begegnete. Bis weit in die Union hinein führten manche jahrelang eine verletzende Diffamierungskampagne gegen ihn. Munition lieferten in seinem Fall immer wieder die uneheliche Herkunft, die Jahre als ausgebürgerter Emigrant in Skandinavien, als Soldat in norwegischer Uniform – und die Frauengeschichten.

Trotzdem, Brandt erreicht das Kanzleramt, vier Jahrzehnte nach dem Sozialdemokraten Hermann Müller. „Jetzt hat Hitler den Krieg endgültig verloren“, soll er nach seiner Wahl gesagt haben. Bald darauf führt er seine SPD zu einem überwältigenden Wahlsieg, bei dem sie erstmals die CDU/CSU hinter sich lässt.

Willy Brandt – eine Erfolgsgeschichte? Der Erlanger Historiker Gregor Schöllgen präsentiert uns etwas anderes in seinem Buch, das ganz ohne Anmerkungen, ohne aufwändigen Apparat auskommt, aber davon profitiert, dass sein Autor mit Brandts umfangreichem Nachlass – über 400 laufende Meter mit persönlichen Aufzeichnungen, Akten, Dokumenten – bestens vertraut ist. Erstaunlich früh schon hat Brandt den eigenen Platz in der Geschichte fest im Blick, hat er begonnen, derlei zu sammeln, zu archivieren. Er hat auch so viel wie kein anderer deutscher Politiker veröffentlicht, halber Journalist, der er zeitlebens blieb. Über 3.500 Titel umfasst das immer noch unvollständige Register seiner Schriften, nicht jedes Pseudonym ist bislang entschlüsselt. Auch in eigener Sache hat er sich immer wieder geäußert, nicht zuletzt in mehreren „Erinnerungen“.

Aus dieser Materialfülle, die ohnehin oftmals mehr verbirgt als enthüllt, destilliert Schöllgen keine detailreiche Darstellung politischen Wirkens, sondern das Psychogramm eines Gescheiterten, immer wieder, immer neu. „Jedes Leben ist von innen gesehen nichts weiter als eine Kette von Niederlagen“, hat sich Brandt auf einem seiner vielen kleinen Merkzettel notiert. Ein Lebensmotto? Auf den ersten Blick mag das erstaunen. Brandt war schließlich nicht allein an die Regierungsspitze gelangt – wenn auch „nach einer außergewöhnlichen Häufung von Zufällen“, wie sein verlässlicher Partner und Vertrauter Walter Scheel ihm einmal erstaunt schrieb –, sondern überdies kaum glaubliche 23 Jahre lang Vorsitzender der SPD gewesen. Er war der letzte große Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung, der ursprünglichen deutschen Sozialdemokratie, bevor sie zur Allerweltspartei „geschrödert“ wurde; unverzichtbare Integrationsfigur von nationalem wie internationalem Renommee – und zudem Friedensnobelpreisträger, Chef der Sozialistischen Internationale bis kurz vor seinem Tod. 1990, nicht lange vor dem Golfkrieg, reist er nach Bagdad, trifft sich mit Arafat, mit Saddam Hussein, bringt 175 Geiseln aus elf Nationen mit nach Hause – eine bezeichnende Episode.

Dennoch, Brandts Weg war schwer, von bitteren Niederlagen gesäumt, nicht allein wegen der zwei gescheiterten Kandidaturen um den Landesvorsitz der Berliner SPD, den zwei schmerzlich verlorenen Bundestagswahlen in den Sechzigerjahren. Die Geschichte eines sozialen Aufstiegs, eines Aufsteigers aus „vollproletarischem Haushalt“, wie er selbst sagt, der sich durch- und hochkämpfen muss. Die vaterlose Kindheit, dem auch eine liebevolle Mutter fehlt. Mit Familienleben, mit Bindungen tut er sich zeitlebens schwer. Eine eigentümliche Aura der Distanz, eine „Art magnetisches Feld“ (Scheel) wird ihn immer umgeben. Sich wirklich öffnen, Freundschaften schließen, sie pflegen, das konnte er nicht, meint auch Schöllgen. Konflikte, Konfrontation, aber auch Nähe im positiven Sinne hielt er schwer aus, flüchtete lieber. Körperkontakt im politischen Alltag war ihm ein Gräuel. Bei Staatsbesuchen im Ostblock ließ seine Entourage die Gegenseite rechtzeitig vorsorglich wissen, dass auf Umarmungen und brüderliche Wangenküsse freundlicherweise verzichtet werden solle. Alkohol und Frauen wurden früh schon seine Begleiter, schon in Norwegen, Schweden, im Spanischen Bürgerkrieg – „ein Kostverächter war er nicht“. Aber er blieb letztlich wohl einsam, trotz seiner drei Ehen, seiner Affären.

Der Weg in die Politik als Flucht vor dem Privatleben, vor privater Verantwortung? Seine politische Karriere beginnt in Berlin, als Protegé Ernst Reuters. „Wir waren beide draußen gewesen“, sagt er rückblickend. Im Oktober 1957 wird er Regierender Bürgermeister. Es ist der wichtigste Bürgermeisterposten der Welt, abgesehen vielleicht von Jerusalem. Brandt wird so etwas wie der Nebenaußenminister der Bundesrepublik, an der Schnittstelle der Blöcke und Supermächte. Vielleicht etwas zu knapp handelt Schöllgen diese zehn Jahre ab, als Brandt mitten in der Phase von Chruschtschow-Ultimatum und Mauerbau am Rande eines atomaren Schlagabtauschs Welt- und Lokalpolitik in einem mitgestalten konnte. Es seien seine besten Jahre gewesen, hat er später nicht von ungefähr gemeint und sich, als einmal sein Flugzeug über den Lichtern der Stadt zur abendlichen Landung ansetzte, vernehmlich gefragt: „Was hat mich nur dazu gebracht, von hier wegzugehen?“

Die Parteiräson war es, oder besser: Herbert Wehner. „Der Aufstieg Brandts ist, jedenfalls was die Regie in der Bundespolitik anlangt, im Wesentlichen das Werk Herbert Wehners“, notiert Schöllgen mit gutem Grund. 1958 in Stuttgart, auf dem wichtigen Parteitag vor Godesberg, formiert sich die spätere Troika, werden Brandt, Wehner und Schmidt erstmals gemeinsam in den SPD-Parteivorstand gewählt – Brandt war zuvor zweimal gescheitert, darüber öffentlich in Tränen ausgebrochen.

„Ich habe Brandt aufgebaut und durchgeboxt“, sagt Wehner intern, nachdem der Regierende Bürgermeister 1960 erstmals zum Kanzlerkandidaten nominiert worden ist. Aber noch gibt es viele innerparteiliche Gegner, die ihrem eigenen Spitzenmann einen festen Sitz im Präsidium verweigern, ihn bei den Vorstandswahlen auf Platz 22 setzen. Seltsame SPD.

Für Brandt beginnen schwierige Jahre, auch wenn er 1964 den Parteivorsitz übernimmt. Intern will Wehner die Fäden in der Hand behalten, Brandt wird vor allem für die Außendarstellung einer modernen, weltoffenen SPD gebraucht. Vor der Öffentlichkeit mühsam verborgene Phasen der Depression suchen den sensiblen Melancholiker und notorischen Morgenmuffel verstärkt heim. Das böse Wort seines Berliner Parteifeindes Franz Neumann von „Weinbrand Willy“ enthält einen wahren Kern. Die Übernahme des Außenministeriums in der großen Koalition bringt den endgültigen Abschied von Berlin, bringt Brandt an die Seite Kurt Georg Kiesingers, ein Platz, der ihm „physisches Unbehagen“ bereitet. Die beiden können nicht miteinander – und das nicht allein wegen Kiesingers NSDAP-Mitgliedschaft.

Als sich die Chance bietet, schmiedet Brandt in seltener Entschlossenheit und Konsequenz an Schmidt und Wehner vorbei die sozialliberale Koalition. Was als innenpolitische Reformkoalition geplant ist, entpuppt sich bald als Koalition für eine neue Deutschland- und Ostpolitik, dem eigentlichen Erfolgsfeld der Regierung. An dieser Stelle vermisst man bei Schöllgen einige erhellende Details zu den Verhandlungen über Hallstein-Doktrin und Gewaltverzicht hinaus, vermisst auch eine Wertung. Tatsächlich hat ja diese Ostpolitik ganz gezielt und geschickt die Möglichkeit der Wiedervereinigung offen gehalten, bei aller Normalisierung gegenüber der DDR. Auch über die innenpolitischen Defizite, abgesehen vom Radikalenerlass, breitet Schöllgen gnädig den Mantel des Schweigens – dabei beginnt damals der rasante Weg in die immer höhere Staatsverschuldung mit seinen bis heute fatalen Folgen.

Der Aufstieg Brandts in der Bundespolitik ist im Wesentlichen das Werk von Wehner

Schon 1972 ist Brandt „erschöpft, ausgebrannt, fertig“. Nach dem Wahlsieg ging’s nur noch bergab, wie der Weggefährte Egon Bahr sich erinnert. Streik der Fluglotsen, elf Prozent mehr für ÖTV-Chef Kluncker, die erste Ölkrise – Brandt flüchtet in Depressionen, zieht sich tagelang zurück. Gelegentlich kommt Horst Ehmke mit einer Flasche Wein, zwei Gläsern: „Willy, aufstehen, wir müssen regieren!“ Damals fragten sich die Spötter: „Wo liegt das Kanzleramt? Zwischen Pech und Wahn!“ – und damit waren nicht allein die beiden Ortsteile Bonns gemeint. Wehner mokiert sich ungestraft in Moskau, der Herr „bade gern lau, so in einem Schaumbad“.

Der Fall Guillaume, die Frauengeschichten, eine mögliche Erpressbarkeit durch östliche Geheimdienste, das alles ist als Anlass banal, Brandts Rücktritt als solcher überfällig. „Die jetzige Last muss ich loswerden“, schreibt Brandt in seinem Rücktrittsbrief an Heinemann. Kanzlerschaft als Karrierefalle. Von Selbstmordgedanken hat vor zwanzig Jahren schon Arnulf Baring im „Machtwechsel“ berichtet, auch Schöllgen tut es jetzt.

Es ist Brandts bitterste Niederlage, die er nie ganz verwinden wird. Es folgen unendlich viele Reisen, folgen lauter Fluchten, auch vor seiner Frau Rut, eine Scheidung, die Ehe mit Brigitte Seebacher-Brandt, in Parteikreisen rasch „BSB“ genannt.

Der erbitterte parteiinterne Streit mit seinem ungeliebten Nachfolger Helmut Schmidt um Nachrüstung und Nato-Doppelbeschluss mündet in einer dreifachen Niederlage: Die SPD verliert darüber die Macht, die USA und die UdSSR schaffen im INF-Vertrag 1987 alle Mittelstreckenwaffen in Europa ab. Die Unnachgiebigkeit des Westens erweist sich als Voraussetzung für die Reformpolitik Gorbatschows und den Zerfall der sowjetischen Diktatur über Osteuropa und als Voraussetzung für den friedlichen deutschen Einigungsprozess. Da hat Brandt aber schon Honecker als „letzten Gesamtdeutschen“ gelobt und 1988, Egon Bahr zufolge, von der „Lebenslüge der deutschen Einheit“ gesprochen. Nein, es ist wirklich „nicht die stärkste Phase seines Lebens“.

Die Wiedervereinigung erlebt er noch. Sein „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ ist das Wort der Stunde. Allerdings: Der Wunschnachfolger im Parteivorsitz, Oskar Lafontaine, versagt in Brandts Augen mit seiner Ablehnung eines Staatsvertrages und D-Mark-Transfers in die DDR – Brandt wird ihm als Einzigem bei der nächtlichen Feierstunde am 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag nicht einmal die Hand reichen. Aber auch die für die SPD so unerfreulichen Wahlergebnisse in der DDR und bei der Bundestagswahl in jenem Jahr empfindet Brandt als persönliche Niederlage. Seiner persönlichen Popularität tut das alles keinen Abbruch. Nachdem er vor fast genau neun Jahren, am 8. Oktober 1992, starb, gaben ihm in Berlin Tausende das letzte Geleit. Schöllgens Fazit: „Dass man nicht immer siegen muss, dass man verletzbar und voller Widersprüche sein darf, dass man Niederlagen erleiden und unter sich und anderen leiden kann, ohne das Herz des Volkes zu verlieren, ist das denkwürdige Vermächtnis von Willy Brandt.“

Gregor Schöllgen: „Willy Brandt. Die Biografie“. Propyläen, Berlin/München 2001, 320 Seiten, 48,90 DM (25 €)