Ein politischer Ästhet

Uwe Soukups Buch über Sebastian Haffner ist klar und kundig, aber fast ohne jede kritische Distanz

von ANDREW JAMES JOHNSTON

Sebastian Haffner ist populär wie nie. Schuld daran ist der Triumph seiner posthum veröffentlichten Memoiren „Geschichte eines Deutschen“, die seine Kindheit und Jugend vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis 1933 schildern. Das 1939 im Londoner Exil geschriebene Buch entfachte eine Debatte um die Glaubwürdigkeit des Autors, an der nicht nur die Absurdität der Vorwürfe, sondern vor allem deren Gehässigkeit überraschte. Ein Historiker und ein Kunsthistoriker unterstellten Haffner, seine Autobiographie nach dem Krieg zumindest überarbeitet zu haben. Die Vorwürfe erwiesen sich als schlicht falsch. Die Emotionen jedoch, die Haffner noch post mortem weckt, erklären sich nicht allein mit professoralem Revierverhalten gegenüber dem journalistischen Amateur. Sie haben tiefere Ursachen, denen Uwe Soukup in seiner Haffner-Biographie nachspürt.

Der 1907 geborene Haffner emigrierte 1938 nach England, schrieb für den Observer und kehrte als dessen Korrespondent 1954 nach Deutschland zurück. Wegen der britischen Haltung zum Mauerbau ging der damalige Kommunistenfresser Haffner zur Welt, doch ließ ihn die Spiegel-Affäre nach links rücken, wo er auch während der Studentenrevolte und der neuen Ostpolitik blieb. Seine größte Wirkung erzielte er als Kolumnist beim Stern, in dem auch seine zeithistorischen Serien über Deutschland im Ersten Weltkrieg und über die Revolution von 1918/1919 erschienen, die dann zu Büchern wurden. Aber erst mit dem Bestseller „Anmerkungen zu Hitler“ stellte er die Fachhistoriker in den Schatten. Hier kam der eher konservative Haffner wieder zum Vorschein, der Hitler als „linke Figur“ sah.

Haffners mehrfache Wechsel der politischen Lager irritierten. So radikal er sich auf der jeweiligen Seite auch gebärdete, blieb er dort nur Gast – ein unbequemer Gast. Während der Fischer-Kontroverse über Deutschlands Schuld am Ersten Weltkrieg wies er den kaiserlichen Eliten eine Fahrlässigkeit nach, die fast verbrecherischer schien, als alles, was traditionell als „Kriegsschuld“ galt. Die Idee einer „Kriegsschuld“ selbst lehnte Haffner wiederum ab. Da Krieg im Jahre 1914 nicht als Verbrechen, sondern als legitimes Mittel der Politik galt, könne von einer Schuld im juristischen oder moralischen Sinne nicht die Rede sein. So saß er zwischen allen Stühlen: Trotz seiner eher konservativen Wertung des Ereignisses stimmte er in der Kritik den Linken zu. Dies sorgte für Unmut im restaurativen Nachkriegsdeutschland, das ja eifrig an die Zeiten vor Hitler und Weimar anknüpfte. Ebenso wenig erfreute er die SPD, als er ihr just in dem Moment den Verrat an der Revolution von 1918/1919 vorhielt, als sie, um möglichst staatstragend auszusehen, in der Großen Koalition den Notstandsgesetzen zustimmte.

Woher nahm Haffner diese Unabhängigkeit? Gibt es in dem so schillernden Denken dieses Mannes Konstanten? Dies sind Fragen, die auch Soukup trotz redlicher Anstrengung nicht recht beantwortet. Haffner, so sein Biograf, hatte eigentlich stets ein Konservativer sein wollen, dem das aber nach Hitler nicht mehr möglich gewesen sei. Obwohl nicht falsch, trifft Soukup den Kern der Sache nicht.

Natürlich, vieles an Haffner war konservativ, sein höchst unpazifistisches Interesse am Krieg, seine Liebe zu „großen Männern“, sein Begriff von Staatsräson. Aber dazu will seine linke Phase nicht passen, deren Wurzeln, wie Soukup zu Recht betont, bis vor den Zweiten Weltkrieg zurückreichen. Auch Fairness ist nicht die eigentliche Triebfeder. Haffner kann sehr polemisch, sogar richtig gemein sein. Friedrich Ebert etwa ist für ihn „ein kleiner Dicker, kurzbeinig und kurzhalsig, mit einem birnenförmigen Kopf auf einem birnenförmigen Körper“. Gerade dieses Zitat ist allerdings typisch für das, was Haffner immer und vielleicht sogar am meisten auszeichnet: seine Neigung, die Welt von einer spezifisch ästhetischen Warte aus zu sehen. Noch deutlicher wird es in dieser Passage: „Der Schlieffenplan war ein typisches Produkt militärischen Jugendstils, kopflastig und dünnstängelig.“ Diese Worte sind nicht bloßer Schmuck, der die brillante Analyse eines politisch wie militärisch wahnwitzigen Unternehmens verbrämt. Sie legen vielmehr die Quelle frei, dem das Urteil bei aller gedanklichen Schärfe letztlich entspringt. Haffner war tatsächlich weder rechts noch links, sondern im Grunde politischer Ästhet – dabei allerdings von exquisitem Geschmack, von erstaunlicher Stilsicherheit.

Sein Ästhetizismus konnte Haffner jedoch mitunter zu erstaunlichen Fehlurteilen verleiten. So verübelte Haffner es Gorbatschow, das russische Reich verspielt zu haben. Er äußerte in einem Interview: „Gorbatschow ist ein russischer Linksintellektueller, so wie hier unsere linksliberalen Intellektuellen, die im Grunde genommen so denken wie die Redaktion der Zeit. Und damit kann man keine Supermacht regieren.“ Nur: Wenn man eine Supermacht mit dem Gedankengut der Zeit nicht regieren kann, dann liegt das Problem möglicherweise nicht allein am Moralismus der Wochenzeitung, sondern wenigstens zu einem Teil auch beim Konzept „Supermacht“.

Eine Biographie Haffners war lange überfällig, und Uwe Soukup entledigt sich seiner Aufgabe kundig und in einer klaren Sprache. Man merkt dem Autor an, dass er seinen Gegenstand bewundert – vielleicht ein bisschen zu sehr. Denn gerade das Zwiespältige und Spannungsreiche, vor allem aber das Originelle an Haffners Wesen kommt zu kurz. Statt zu werten, neigt Soukup dazu, Haffner zu zitieren. Das ist nicht uninteressant, aber es erklärt nicht ansatzweise das Geheimnis der Haffnerschen Faszination. Dabei gibt Haffner in seinem Werk durchaus Hinweise, sie hätten nur gedeutet werden müssen. Wenn er etwa beklagt, dass in Deutschland das englische Genre der „Geschichtskritik“ fehle, also die essayistische Betrachtung der Historie, dann darf man das ruhig im doppelten Sinn des Wortes Kritik verstehen. Letztlich hat der Geschichtskritiker Haffner Politik nach denselben Kriterien beurteilt wie ein Literaturkritiker Belletristik, nach ästhetischen – und die ließen sich für keine Parteilinie zurechtbiegen.

Uwe Soukup: „Ich bin nun mal Deutscher – Sebastian Haffner. Eine Biographie“. Aufbau Verlag, Berlin 2001, 344 Seiten, 39,90 DM (20 €)