„Wo waren Sie, als es geschah?“

Die New Yorker sind freundlicher geworden. Ihre Floskel „Nice to see you“ kommt gut vier Wochen nach dem Anschlag aus tiefstem Herzen

aus New York NICOLA LIEBERT

„Natürlich mache ich mir Gedanken, natürlich tun mir die unschuldigen Opfer Leid. Aber wir müssen tun, was wir tun müssen“, sagt ein New Yorker Passant nach Bekanntwerden der amerikanisch-britischen Angriffe gegen Afghanistan. Seit vor knapp einem Monat Selbstmordattentäter das World Trade Center in Schutt und Asche gelegt haben, ist nichts mehr wie zuvor. Die New Yorker versuchen den Schock zu verdauen, dass sie auf ihrem eigenen Boden verwundbar geworden sind. Dass jetzt die USA selbst aktiv geworden sind, empfinden da viele als willkommene Kehrtwende. „Ich bin froh, dass es jetzt endlich losgeht“, sagt ein Mann.

Dennoch, die New Yorker stehen keineswegs unkritisch hinter ihrer Regierung. Ein Student, dessen Vater sich aus dem brennenden World Trade Center retten konnte, hält Bomben und Marschflugkörper für „absolut verkehrt. Was wollen wir da eigentlich treffen außer Ruinen und flüchtenden Zivilisten?“ Eine Friedensdemonstration am Sonntag brachte immerhin 10.000 Menschen auf die Straße – und nur 50 Gegendemonstranten, die die Friedensbewegten als „Verräter“ beschimpften.

Viele bemühen sich jetzt, Menschenansammlungen wie zum Beispiel die Parade zum Columbus Day am Montag zu vermeiden. Aus Angst vor neuen Terroranschlägen. „Ich mache mir wirklich Sorgen“, gibt eine Geschäftsfrau zu, die gerade per Flugzeug aus Boston nach New York angereist ist, „aber es ist auch wichtig, dass wir uns nicht unterkriegen lassen. Wenn wir jetzt nicht mehr fliegen, heißt das, die Terroristen haben gewonnen.“

Konsum als Patriotismus

Die Rückkehr zur Normalität ist auch einen Monat nach den Anschlägen auf das World Trade Center noch ein täglicher Kampf. Viele halten ihn jedoch für ihre patriotische Pflicht. Schließlich muss der Wirtschaft wieder auf die Beine geholfen werden. In den ersten Wochen nach den Anschlägen war den wenigsten Amerikanern nach Konsum zumute. Läden und Restaurants in ganz New York, nicht nur in der Nähe des World Trade Centers, erlitten dramatische Umsatzeinbußen. Präsident George W. Bush und der New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani drängen daher die Amerikaner bei jeder Gelegenheit, jetzt schnellstens wieder ihr normales Leben – also ihr Konsumverhalten – wieder aufzunehmen.

Aber was ist schon normal seit dem 11. September? Die Frau, die bei einem Fundraising-Konzert leise zu schluchzen beginnt und damit auch ihren Sitznachbarn die Tränen in die Augen treibt? Die Menschentraube vor jeder Feuerwache, die sich um Kerzen, Blumen und Bilder der vermissten Feuerwehrleute schart? Oder die Banker, die sich, auf einmal ihres Arbeitsplatzes im Finanzdistrikt beraubt, in unzulänglichen Ersatzbüros im benachbarten New Jersey drängen oder von zu Hause aus arbeiten?

Am unnormalsten ist zweifellos der Geruch, der immer noch über dem Süden Manhattans liegt. Es riecht wie schwelendes Plastik oder brennende Reifen. Ein Geruch, der eine ständige Erinnerung an die Ereignisse ist, mal stärker, mal schwächer. Ein Geruch, den jeder sofort identifizieren kann: Es riecht nach World Trade Center. „Hier, ab hier können Sie es riechen“, doziert der Taxifahrer wie ein Fremdenführer und kurbelt zum Beweis das Fenster herunter.

Eine Rauchfahne – inzwischen nicht mehr dick und schwarz, sondern weiß wie zarter Nebel – schwebt immer noch über den Trümmern. Vor allem die an die Wall Street zurückgekehrten Börsianer leiden darunter. Je nachdem, aus welcher Richtung der Wind weht, ist der Gestank so widerwärtig, dass die Angestellten von Investmenthäusern teilweise früher nach Hause gehen dürfen. Es ist „der Geruch von Seelen, die nicht zur Ruhe kommen“, schreibt die New York Times.

Schon beim Anflug auf den New Yorker Kennedy-Flughafen merkt man, dass etwas anders ist. Die sonst betont desinteressierten Geschäftsmänner drücken sich an den Fenstern der Maschine die Nasen platt wie aufgeregte Kinder bei ihrer ersten Flugreise. Zwei von ihnen ziehen Kameras aus der Aktentasche, um ein Foto von der neuen Skyline an der Südspitze New Yorks zu ergattern, von einer Skyline, die zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten vom nur sechzigstöckigen Woolworth-Gebäude aus dem Jahr 1913 beherrscht wird.

Auch in der U-Bahn ist es anders als früher. Plötzlich schauen sich die Menschen in die Augen. Jeder Vorwand ist recht, um sich mit seinen Mitreisenden zu unterhalten. Und dann fällt schnell die unausweichliche Frage: „Wo waren Sie denn, als es geschah?“ Als der U-Bahn-Zug dann in einer Station minutenlang die Türen nicht öffnet, wird gleich die Vermutung „Bombenalarm“ in die Runde geworfen. Es war keiner.

Es gibt in Manhattan ein Nord-Süd-Gefälle der Normalität. Weit oben, in Harlem etwa oder der Upper West Side, erscheint die Welt fast wieder wie früher. Doch je weiter man nach Süden kommt, desto präsenter sind die Ereignisse. Chinatown, einer der dem Finanzdistrikt nächst gelegenen Stadtteile zum Beispiel, wirkt nur auf den ersten Blick geschäftig. Doch das Gedränge ist nicht mal annähernd so dicht wie sonst. Ein zweiter Blick zeigt, dass die Touristen, die für viele Läden und Restaurants den Hauptumsatz bedeuteten, ausbleiben. Viele Menschen auf der Straße gehen nicht einkaufen. Sie gehen eigentlich nirgendwo hin. Sie sind arbeitslos.

Büros und Läden hier sind zum Teil lahm gelegt, weil die Telefonverbindungen immer noch unterbrochen sind und Internet oder Kreditkartenzahlung nicht verfügbar sind. Da hilft es nur wenig, dass die Telefongesellschaften an den Straßenkreuzungen mobile öffentliche Fernsprecher aufgestellt haben. Lieferungen sind angesichts zahlreicher gesperrter Straßen oft schwierig bis unmöglich. „Aber es interessiert sich ja sowieso niemand für einen netten Abend im Restaurant“, sagt ein Gastronom. Jetzt, wo viele Köche hier nichts zu tun haben, bekochen manche von ihnen die Feuerwehrleute und Räummannschaften, die an dem Schutthaufen arbeiten, der einst das World Trade Center war.

Noch näher dran am „Ground Zero“, der Stelle, wo das World Trade Center stand, ist die Wall Street. Die meisten Menschen, die hier arbeiten, haben den Einsturz der Gebäude hautnah miterlebt. Viele haben Freunde und Kollegen verloren, der Schutthaufen, den man von vielen Gebäuden in der Umgebung sehen kann, erinnert sie täglich daran. Analysten in Investmentbanken sprechen am Telefon von ihrem Widerwillen, so nah an der Stelle, wo so viele Menschen ums Leben gekommen sind, ihren Geschäften nachzugehen. Ein Banker gibt – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – mit müder Stimme zu, dass er sich nur mit Mühe für die aktuellen Aktienkurse zu interessieren vermag.

Krieg als Stadtgespräch

Plötzlich haben das Leben an sich, Familie und Freunde einen neuen Wert bekommen. Die Angestellte einer Fluggesellschaft etwa erzählt, dies sei ihr letzter Arbeitstag, da sie entlassen sei. Mit strahlendem Lächeln fährt sie fort: „Aber das macht mir überhaupt nichts aus. Ich bin nur froh, dass ich am Leben bin, dass es meiner Familie und meinen Freunden gut geht.“

New York ist freundlicher geworden. Die früher oft mit schriller Stimme gezwitscherte Routinebegrüßung „Nice to see you“ klingt auf einmal nicht mehr aufgesetzt, sondern aus tiefstem Herzen kommend. Jeder freut sich aufrichtig über jeden Bekannten, den er unverletzt antrifft. Ladenbesitzer fangen mit nahezu allen Kunden ein Gespräch über die Anschläge und die militärischen Gegenschläge an. Die meisten gehen gern darauf ein. Und wie immer beginnt das Gespräch mit der Frage: „Und wo waren Sie ...?“

Ganz nah am „Ground Zero“ liegt Battery Park City. Der Stadtteil ist auf dem in den Hudson River geschütteten Aushub für das World Trade Center entstanden. Die Bewohner müssen jetzt durch eine Ausweiskontrolle gehen, bevor sie in ihre Häuser können. Besucher, Lieferdienste und dergleichen Annehmlichkeiten eines normalen amerikanischen Lebens gibt es hier nicht mehr. Eine Frau, die gerade einen Umzugsservice beim Einladen ihrer Möbel in einen Laster beaufsichtigt, begründet ihren Wegzug mit den jahrelangen Räum- und Bauarbeiten, die jetzt hier stattfinden werden. „Es wird so bald nicht mehr normal werden. Das hier ist jetzt normal“, sagt sie, und mit schwungvoller Geste deutet sie auf die Schlangen dröhnender Lkw und Bagger in unmittelbarer Nähe ihres Hauses.

Am „Ground Zero“ selbst drängen sich Menschen an den Absperrungen, von denen aus man einen Blick auf den erstaunlich begrenzten Schutthaufen hat. Die Straßen, die vor vier Wochen mit einer zentimeterhohen Staubschicht bedeckt waren, sind wieder sauber. Die ersten Geschäfte am Broadway, der nur einen Häuserblock entfernt am Katastrophenschauplatz entlangführt, sind schon wieder geöffnet. Allerorten werden die immer noch eingestaubten Fassaden gereinigt. Das Ringen um Normalität ist hier besonders sichtbar. Auch in den Gesichtern der Schaulustigen.

Die Stimmung ist gedrückt, kaum jemand spricht. Einige wenige machen Fotos von den ausgebrannten Häusern am Rande der Einsturzstelle und von dem etwa 15 bis 20 Meter hohen Stück Fassade, das vom World Trade Center übrig geblieben ist und entfernt an einen Zaun erinnert. Einige stehen einfach nur reglos da und starren. Manche haben Tränen in den Augen. Die meisten wollen nur eins: die Realität begreifen und verarbeiten. Aber wie lange das dauern wird, ist nicht absehbar.