: Die große Kunst der Wiederholung
Rock und mehr: Das Stickman-Festival in der Großen Freiheit 36 ■ Von Roger Behrens
Die Phänomene, die in der Popmusik Coverversion oder Retro genannt werden, so unterschiedlich das Gemeinte auch ist, fallen in der bürgerlichen Kunstmusik in den Bereich der Interpretation und sind nichts Besonderes. Dagegen hat sich in der Popmusik der letzten 50 Jahre durchgesetzt, dass die Originalität des Arrangements an der jeweiligen Band hängt; die Entwicklung des Musikrechts – nicht zuletzt durch das Engagement des Zwölftöners Arnold Schönberg etabliert – hat das ihre dazu beigetragen, dass mit der Musik der Beatles nicht so umgegangen wird wie mit der von Bach oder Beethoven. Weil aber das Material der Pop- und Rockmusik beschränkt ist, kommt es zwangsläufig zu Wiederholungen, Wiederverwertungen, Rekursen – musikalischen Formen, die eigentlich als unmodern und veraltet galten. Technisch Neues kommt hinzu, neue Sounds und neue Effekte, im Prinzip scheint aber vor allem die Zukunft des Rock, des guten Riffings, in seiner eigenen Vergangenheit zu liegen. Denkbar, dass schon bald jetzt noch ungeliebte Deep Purple- und Doors-Phrasen oder ganze Stücke so gehandhabt werden, wie heute jedes Orchester mit Mozart und Mendelssohn umgeht.
An die Musik zu erinnern, ohne den Missmut des Plagiats zu erwecken, das wäre die große Kunst dieser Wiederholung. Wie das zu klingen hätte, demonstrieren seit Jahren Motorpsycho, die nicht nur auf ihren unzähligen Veröffentlichungen fast konzeptuell jede Spielart und Nische des Pop der letzten dreißig Jahre ausloten, sondern auch live überzeugen: durch stadionrockistische Zeitreisen, die jedes Stück zum halbstündigen Inferno werden lassen. Sie haben Mitstreiter und musikalische Freunde, die keineswegs Nachahmer sind, aber an derselben Front wirken: Sie heißen Isolation Years, Fireside, 35007, The Soundtrack of Our Lives, sind alle beim Hamburger Label Stickman unter Vertrag und spielen mit Motorpsycho beim Stickman-Festival am Sonnabend.
Isolation Years gelten als Geheimtipp; Hamburger werden sich mitunter an die geschätzten Veranda Music erinnert fühlen, auch wenn bei den Erstgenannten die Vorliebe für psychedelische Klang-exkurse unverkennbar bleibt. Ein solch offenes Bekenntnis zu dem, was einmal als psychedelisch verpönt war, teilen Isolation Years mit 35007 (kopfüber als „Loose“ zu lesen). Ähnlich wie Motorpsycho bleiben auch 35007 gerne auf begradigten Boogie-Riffs hängen und umkleiden diese mit Soundlinien aus alten Analogsynthesizern. The Soundtrack of Our Lives sind aus den 1993 aufgelösten Union Carbide Productions hervorgegangen und schreiben ihre eigene Tradition fort, songorientiert, in aggressiver Zärtlichkeit. Eine Kunst, die auch Motorpsycho bis zum buchstäblichen Exzess beherrschen: Es ist eine ähnliche Liebe zur Musik, die in den Siebzigern Miles Davies, Herbie Hancock und andere vom Jazz zum Rock brachte und nun, nach den Erfahrungen von Punk und Plastik, in merkwürdiger Spiegelung vom Rock zum Jazz zurückführt. In diesem Sinne kooperierten Motorpsycho schon vor fünf Jahren mit der Jazzband The Source und dem Elektroniker Deathprod. Abseitige Instrumentierungen wie Mellotron und das mittlerweile nicht zuletzt durch sie (wieder) bekannt gewordene Theremin gehören längst zum Instrumentalrepertoire der Studioproduktionen. Was live hingegen zunächst wie eine Coverversion der eigenen Musik klingt, entpuppt sich bei Motorpsycho als Zugriff auf das Material, der viel mit dem gemein hat, was in der bürgerlichen Kunstmusik der Klavierauszug erfüllt. Und damit bewegt sich die Band zwar in der musikalischen Vergangenheit, formiert aber eine Idee von Rockmusik der Zukunft. Diese Musik wird der Weckruf der schönen neuen Welt sein: Motorpsychos neues Album heißt Phanerothyme – nach einer psychedelischen Droge, die sich der (bürgerliche) Utopist Aldous Huxley ausdachte.
Sonnabend, 20.30 Uhr (pünktlich!), Große Freiheit 36
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