Im Licht des Supermarkts

Schwarzweiß war gestern, heute ist bunt: Die Magdeburger Kammerspiele segeln radikal westwärts, unter neuer Indendanz und mit zeitnahen Stücken zwischen Sozialwohnung, Chatroom und Bordell

Das Trash-Treffen mit Hamburgs Thalia Theater dürfte bald Kultstatus erlangen

von FRANK WENGEL

Bei Wolf Bunge wären solche Bilder undenkbar gewesen, bei Tobias Wellemeyer wirken sie programmatisch: Für das Spielzeit-Heft seiner Auftaktsaison an den Freien Kammerspielen Magdeburg hat sich der neue Intendant beim Griff in ein Supermarktregal fotografieren lassen. Sein überwiegend junges Team grüßt vor Kakteen und auf dem Rummelplatz, als Glamour Girl oder Latin Lover. Vorbei die Zeit, als ein Schauspieler unter dem Slogan „Theater muss sein“ mit Bierbüchse neben einer Mülltonne posierte oder eine nackte Glühbirne den trotzigen Satz „In der Kammer brennt noch Licht“ illustrierte. Schwarzweiß war gestern, heute ist bunt!

Zehn Jahre hatte das Team um den einstigen Castorf-Kommilitonen Wolf Bunge seine Wendebastion am Breiten Weg in Magdeburg gegen den Angriff der Gegenwart auf die Erinnerung verteidigt, ehe es den Stellungskrieg mit der Stadt und der Zeit endgültig verloren gab. Dass mit dem 1961 in Dresden geborenen und am Schauspielhaus seiner Heimatstadt zum Regisseur gereiften Tobias Wellemeyer abermals ein Ostdeutscher an die Spitze der Bühne berufen wurde, war nach dem Ende dieser Ära keineswegs selbstverständlich. Dass der neue Hausherr nun freilich einen radikalen Richtungswechsel vollzieht und den einst gegen den Wind kreuzenden Freibeuterkahn in das Kielwasser der westwärts segelnden Armada dreht, ist nur konsequent.

Dabei hatte Wellemeyer für Bunges „Entschleunigung der Geschichte“ und für das „Zu-Ende-Erzählen der Biografien“ durchaus Verständnis. Bei seinem Eröffnungsspektakel am vergangenen Wochenende, das trotz seines Titels „unsterblich“ auch das vorläufige Ende einer zähen Debatte über die Magdeburger Theaterstruktur feierte, wollte er nun jedoch ein neues Publikum werben: „Mit unserem Programm sprechen wir vor allem die Generation an, die in der Mitte des Lebens steht und Ja sagt zu sich und dieser Stadt.“

Nach der Ästhetik des Widerstands also der Triumph der Affirmation? Die Wahl der Stücke spricht zumindest für einen Rückzug auf das Private: Mit Jon Fosses „Die Nacht singt ihre Lieder“ und Igor Bauersimas „norway.today“ werden klaustrophobische Tragödien aus den kalten Weiten von Sozialwohnung und Chatroom erzählt, im Studio wetteifert das sentimentale Boxerstück „Flinke Fäuste“ von Israel Horovitz mit Neil LaButes Monologfolge „Bash. Stücke der letzten Tage“. Und im Foyer wird der Geschlechterkampf in getrennten Durchgängen entschieden: Auf Gesine Danckwarts „Girlsnightout“ folgt Carsten Andörfers Männer-Liederabend „unsterblich“.

Am Ende des mit Lesungen von Annett Gröschner und Thomas Brussig, mit einem Gastspiel des Thalia Theaters Hamburg, mit Monologen und Konzerten angedickten Wochenendes scheint fast sicher, dass ausgerechnet diese Trash-Treffen zwischen den angestammten Spielstätten bald einen regelrechten Kultstatus erwerben dürften. Namentlich Lukas Langhoffs Inszenierung des Danckwart-Textes ist ein anregender Aperitif für eine neue Theatersaison – geschüttelt, nicht gerührt. Das Frauenterzett lockt in großen Fensterrahmen die Magdeburger Nachtschwärmer und fällt in den Ruhepausen kunstvoll aus einer Rolle in etliche andere.

Während „Girlsnightout“ also in der Grauzone zwischen Bühne und Bordell siedelt und die Komik beider Branchen ungeniert virtuos ausspielt, importiert „unsterblich“ die Tribüne in das Theater. In der Nachspielzeit an der Bierbude formieren sich hier Fußballfans zum Männerchor und pflegen mehr oder minder populäres Liedgut. Mit Blick auf künftige Spielplan-Entscheidungen hofft man inständig auf einen Sieg der starken Frauen – und muss doch das Gegenteil befürchten.

Auch das Debüt des Hausherrn, die deutsche Erstaufführung von „Die Nacht singt ihre Lieder“, war sozusagen etwas tiefer gelegt und hatte wenig direkten Bezug zum erklärten Zielpublikum. Denn ebenso wenig, wie sich die selbstbejahenden Lebenszentralisten in Carsten Andörfers singenden Frührentnern und Kampfhundhaltern wiedererkennen, spiegeln sie sich in den leeren Augen der Figuren von Jon Fosse.

Die hektisch verstolperte Premiere seines Dramas kleistert die tiefen Fugen zwischen den Worten zu und kratzt nur an der Oberfläche der Sätze. Dabei hat Wellemeyer selbst nicht viel falsch gemacht – die Überschätzung seiner unsicheren und darum oft hyperventilierenden Darsteller ist ein eher sympathischer Zug.

Aber vielleicht hätte er doch nicht auf seinen jüngeren Bruder hören sollen, der ihm irgendwann in einer Dresdner Straßenbahn gesagt hat: „Jetzt hör endlich auf mit deinem Ostscheiß!“ Auf seinem Foto im Spielzeit-Heft jedenfalls wirkt der neue Intendant ein wenig blass. Aber das kann natürlich auch an der künstlichen Supermarkt-Beleuchtung liegen.