: Der Ekel im zuckenden Mundwinkel
Wiener Zwangsneurosen: Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ handelte von der Soziogenese einer sadomasochistischen Persönlichkeit. Michael Hanekes Verfilmung reduziert das Leiden seiner Hauptfigur auf eine persönliche Pathologie. Nur: Isabelle Huppert macht da nicht mit
von KATJA NICODEMUS
Es ist eine eklige, sardinenhafte Welt der schwitzenden alten Frauen und rattenhaften Männer, der pelzgefütterten Witwen und abgewetzten Hirschhornknöpfe. Wenn Erika Kohut Straßenbahn fährt, dann pflügt sie sich durch eine graue Flut aus übel dünstenden, abstoßenden Leibern. Die Frau hat nicht nur einen phänomenal empfindlichen Geruchssinn, überhaupt ist ihr alles Körperlich-Kreatürliche zuwider. Für die Klavierspielerin Professor Kohut aus Elfriede Jelineks gleichnamigem Roman ist der Kontakt mit der Masse, mit den infektiösen Niederungen des Wiener Plebses, ein Albtraum. Sex, diese Sekret produzierende Aktivität randalierender Genitalien, kommt für Kohut nicht infrage. Dafür geht sie manchmal in Pornokabinen, wo sie mit behandschuhten Fingern die voll gewichsten Taschentücher der männlichen Vorgänger an die Nase führt. Oder sie schneidet sich mit einer Rasierklinge ein Stückchen in die Vagina, um da etwas zu spüren, wo sie sonst wie ein Friedhof ist, „empfindungslos wie ein Stück Dachpappe im Regen“.
Kohut hat sich eingerichtet in ihrer Zwangsneurose, und an ihrer Familiengeschichte hätte ein anderer Wiener um die Jahrhundertwende seine helle Freude gehabt. Ein Drama des begabten Kindes, von der vampiristischen Mutter in eine Pianistinnenkarriere getrieben, am Druck gescheitert und dem gebärenden Drachen in ewiger symbiotischer Dankbarkeit verpflichtet. Die Kindheit eine einzige Folge von Unterwerfungen. Unter den Ehrgeiz der Alten und die eiserne Disziplin der Tonleitern. Unter den Code der passiven Weiblichkeit und die Bildungsbürgerkonventionen der Küss-die-Hand- und Kommerzienratskanaillen. Jelineks peitschenhaftes Pamphlet erzählt von der Soziogenese einer sadomasochistischen Persönlichkeit, von einem Welt- und Selbstekel, der nicht abzulösen ist von der österreichischen und insbesondere wienerischen Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat.
In Michael Hanekes Verfilmung des Romans scheinen Wien und Österreich nicht einmal als Kulisse zu existieren. „Die Klavierspielerin“ bewegt sich in einem franko-austro-germanischen Niemandsland, auf einem Koproduktionsterrain, das französische Haupt- und deutsche Nebendarsteller in einer Stadt zusammenbringt, die egal wo in Europa liegen könnte. Bei Elfriede Jelinek bringt ein ganz bestimmtes Land seine ganz bestimmten Aliens hervor. Bei Haneke wird eine einsame Außerirdische mit all ihren Neurosen und Perversionen im Gepäck per Fallschirm in einer Geschichte abgeworfen. Bei Jelinek heißt das Schlachtfeld immer auch Österreich. Bei Haneke heißt es Isabelle Huppert.
Es ist schlichtweg umwerfend, wie Huppert der eher konventionell dahinfließenden Anekdotenstruktur von Hanekes Filmbeginn eine eigene Geschichte vertikal entgegenerzählt. Sie ist das kleine Mädchen, das vor dem Mutterdrachen (Annie Girardot) ein neu gekauftes Blümchenkleid versteckt und in der Pause zwischen den Klavierstunden mit der versonnenen Mechanik eines Schulkindes am Butterbrot der Alten nagt. Sie ist die altjüngferliche Domina, die ihre Schüler mit einem Sadismus terrorisiert, in dem immer noch der Drill der eigenen Lehrjahre nachzittert. Ihre herrischen „Fortissimo“-Rufe und ihr immer leicht hochgerecktes Kinn sind die Feldzeichen einer Frau, die letztlich einen Krieg gegen sich selbst führt, indem sie alles, was ihr angetan wurde, musterhaft wiederholt. Und die am Ende eines langen Tages voll nicht getroffener Tasten mit der Mutter im gemeinsamen Schlafzimmer beim eheähnlichen Bettgeflüster verdämmert.
Dass Welt- und Selbstverachtung bei Erika Kohut ein und dasselbe sind, lässt sich von Hupperts Gesicht ablesen, ohne dass der Zwangszusammenhang je ins Bewusstsein ihrer Figur dringt. Wenn Kohut mit dem herablassenden Ausdruck einer Königin, die auf dem Terrain des Pöbels zu einer schnellen Verrichtung gezwungen ist, einen schmierigen Pornoshop durchquert, dann schenkt sie den feixenden Türken im Bildhintergrund keinerlei Beachtung. Die Gegenwart der Männer, die an diesem Ort genau das Gleiche suchen wie sie selbst, wird in einem fast schon komischen, simultanen Kraftakt verdrängt. Wie nervenzehrend anstrengend das sein muss, sagt allein Hupperts leicht verspannter Mundwinkel als einziges fassbares Zeichen einer zwanglos gespielten Zwangsneurose.
Wäre diese Form der Selbstentfremdung im 18. Jahrhundert schon als Zivilisationskrankheit in Mode gewesen, hätte sie aus Denis Diderots „Paradox des Schauspielers“ einen kaum zu entwirrenden Algorithmus der Schauspieltheorie gemacht. In Diderots Dialogessay besteht das Paradox und die Kunst des Spielens in einem Zustand der Verdopplung, bei dem der Komödiant gleichzeitig er selbst und ein anderer sein muss. Der Darsteller eines neurotischen Musters hingegen ist gleichzeitig er selbst und ein anderer, der sich in einem weiteren Aufspaltungsschritt selbst entfremdet ist. Es ist die unglaubliche Beiläufigkeit dieser doppelten Brechung, die ständige Gleichzeitigkeit verschiedener Zeit-, Gefühls- und Bewusstseinsebenen in ihrem Ausdruck, die Hupperts Performance in der „Klavierspielerin“ so überragend macht, dass man nach dem Kino eigentlich nur noch ekstatisch auf Knien zu dem imaginären Siegertreppchen rutschen möchte, auf dem sie steht.
Einmal immerhin gibt Hanekes Film Gelegenheit, die winzigen, unmerklichen Bewegungen ihres Gesichts in aller Ausgiebigkeit zu beobachten. Es ist die Szene, in der Erika Kohut zum ersten Mal dem Klavierspiel eines jungen Mannes lauscht, der ihr Schüler werden will und der, wie man so schön sagt, ihr Verhängnis werden wird. Walter Klemmer (Benoît Magimel), ein blonder, gut aussehender Draufgänger, trägt mit der Chuzpe des ewigen Siegertypen Schönberg und Chopin, Schumann und Schubert vor, während Kohuts Gesicht zur kargen Landschaft wird, vor der die Gefühlsformationen vorbeiziehen und sich überlagern. Da ist der Hass auf einen Menschen, der das, wofür sie selbst sich die Finger wund geübt hat, einfach in die Dilettantenwiege gelegt bekam. Da ist die Bewunderung für jemanden, der den musikalischen Ausdruck, den sie ihren Schülern jeden Tag mühsam eintrichtert, instinktiv begreift. Da ist die körperliche Sehnsucht nach dem gut gebauten jungen Kerl, der ihr bereits offen seine Avancen gemacht hat, und der abgrundtiefe Ekel vor allem, was sich aus diesem Begehren möglicherweise entwickeln könnte.
Spätestens mit dem Beginn der seltsamen Liebesaffäre zwischen Kohut und Klemmer pendelt sich Hanekes Film allerdings auf die Schock- und Provokationsdramaturgie ein, mit der sein Kino den Zuschauer immer wieder in den Würgegriff nimmt. Wenn Kohut nach einem gescheiterten hastigen Fellatioversuch eine widerliche gelbe Flüssigkeit auf den Boden kotzt oder wenn sie von Klemmer brutal geschlagen und vergewaltigt wird, dann befinden wir uns in einem reichlich abgedroschenen Reiz-Reaktions-Schema, das strukturell nicht so verschieden ist vom allgemein-abgestumpften Umgang mit der Gewalt, den Haneke in seinen Interviews gerne wortreich an den Pranger stellt.
Man muss sich nicht auf Elfriede Jelineks überbordende, parodistische Psychologisierungen einlassen, die nur in ihrer stoßhaften Aneinanderreihung funktionieren und ihrem Roman eine hysterische Ernsthaftigkeit verleihen. Haneke allerdings reduziert die Klavierspielerin auf ein pathologisch-skurriles Ausstellungsstück, dem Huppert ganz allein seine Würde erkämpfen muss. Dass die beiden bei der „Klavierspielerin“ letztlich an zwei verschiedenen Projekten gearbeitet haben, wurde bereits in Cannes deutlich, wo der Regisseur von „meiner kleiner Komödie“ sprach, während seine Hauptdarstellerin todernst mit einem aufgeklebten Tattoo auf dem Arm herumlief, das die Musik von Bach als unsterblich ausrief.
In einer Szene knallen diese beiden Konzeptionen regelrecht aufeinander: Gerade hat Kohut dem Geliebten ihre masochistischen Fantasien in einem Brief offenbart. Während Klemmer ihr die eng beschriebenen Seiten höhnisch vorliest, entsteht aus der Diskrepanz zwischen Kohuts Steifheit und der absoluten Obszönität des Vorgelesenen eine irritierende Komik. Aber dann zieht Huppert unter dem Sofa ein kleines Kästchen hervor, das hier wahrscheinlich seit Jahren auf seinen Einsatz gewartet hat. Mit der Zärtlichkeit eines Kindes, das sein liebstes Spielzeug auspackt, drapiert sie ihre Ketten, Gürtel und Knebel. Armselig und großartig.
Immer wieder sind es solche Gegenstände, die Huppert mit einer eigenen Geschichte auflädt. Das hellblaue Angorajäckchen, das ihr die Mutter nach den Auftritten wie eine Schraubzwinge um die Schultern legt. Die lachsfarbene Bluse, mit der sie sich für Klemmer aufstylt. Oder die abgeranzte Ledertasche mit den Noten, die früher wahrscheinlich zur Schule geschleppt wurde und in der immer noch Mamas Stulle im Butterbrotpapier liegt. Über diese fast schon fetischistisch besetzten Gegenstände entsteht doch noch der Anschluss an eine egal wie ferne gesellschaftliche Wirklichkeit. Eigentlich erstaunlich, dass ausgerechnet ein österreichischer Regisseur davon auszugehen scheint, dass das, was sich im Kopf von Erika Kohut abspielt, nichts mit den Loden tragenden Menschen zu tun haben könnte, denen sie schon als Schülerin in der Straßenbahn mit unbestimmter Aggression ihre Bratsche in die Hacken gerammt hat.
„Die Klavierspielerin“. Regie: Michael Haneke. Mit Isabelle Huppert, Annie Girardot, Benoît Magimel, Susanne Lothar, Udo Samel, Österreich 2001,130 Min.
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