Nobelpreis für Kofi Annan?

Der UNO-Generalsekretär ist wegen seiner freundlichen Art und seiner Erfolge beliebt und geschätzt. Doch den richtigen Zeitpunkt für ein Engagement in Afghanistan hat Annan erst mal verpasst

aus New York ANDREAS ZUMACH

Wer wird heute Morgen gegen fünf Uhr New Yorker Ortszeit im Haus Sutton Place Nr. 3 am Telefon sitzen und den Anruf aus Oslo entgegennehmen? „Ich bestimmt nicht“, lacht Nene Annan. „Ich schlafe dann noch. Mein Mann auch.“ Bei einem Empfang in der Privatresidenz von UNO-Generalsekretär Kofi Annan am Mittwochabend tun noch alle fast völlig ahnungslos. Wann wird denn am Freitag im UNO-Hauptquartier gefeiert? Annans Sprecher Fred Eckhard lässt sich auch von dieser Frage nicht überrumpeln: „Was gibt es zu feiern?“

Noch „gar nicht mitbekommen“ haben will Eckhard die Äußerung, mit der der Sekretär des norwegischen Nobelkomitees und Direktor des Nobelinstituts, Geir Lundestad, letzte Woche die seit Gründung dieser Institutionen im Jahre 1901 gültige Schweigeregel brach: „Kofi Annan ist der einzige Generalsekretär, der den Vergleich mit Dag Hammarskjöld standhält.“ Der zweite Generalsekretär der Vereinten Nationen erhielt 1961 posthum den Friedensnobelpreis, nachdem er bei seinen Friedensbemühungen im Kongokrieg unter bis heute ungeklärten Umständen mit einem Hubschrauber abstürzte. Lundestads Äußerung ist der deutlichste unter zahlreichen Hinweisen aus der norwegischen Hauptstadt, wonach der 100. Friedensnobelpreis heute an Annan, an die UN-Organisation oder gemeinsam an beide verliehen wird.

Der mutmaßliche Preisträger lässt sich an diesem Abend in seiner Residenz mit keiner Silbe auf das Thema ein. Stattdessen widmet sich Annan ganz den Fragen der aktuellen Weltpolitik. Er parliert mit Geduld, freundlicher Verbindlichkeit und völlig arroganzloser Eleganz – Eigenschaften, die den 63-jährigen Ghanesen weltweit so beliebt gemacht haben, neben seinen Erfolgen bei Strukturreformen der UNO und seinen Bemühungen zur Abwendung eines dritten Golfkrieges gegen Irak im Frühjahr 1998.

Immer wieder fragen Annans Gesprächspartner nach seiner Haltung zum Krieg der USA und Großbritanniens gegen Afghanistan und fordern eine „stärkere und aktivere Rolle“ der UNO. Gleiches gilt für die Wiederbelebung des Nahost-Friedensprozesses. Annan reagiert vorsichtig und zurückhaltend. Zum Thema Afghanistan wiederholt er ständig seine gewundene Formulierung, wonach die USA und Großbritannien „ihre militärischen Maßnahmen gegen Afghanistan in den Kontext des Rechts auf Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UNO-Charta gesetzt“ hätten. Ist das nun eine Zustimmung des UNO-Generalsekretärs zu den militärischen Maßnahmen oder eine vorsichtige Distanzierung? Annan schweigt mit freundlichem Lächeln.

Sehr vorsichtig äußert sich der Generalsekretär auch zu einer eventuellen Nahost-Friedensinitiative der UNO. Seine engsten, zum Teil überängstlichen Berater, die sich in erster Linie an etwaigen politischen Wirkungen in Washington orientieren, haben Annan Zurückhaltung empfohlen.

Sollten Annan und/oder die UNO heute tatsächlich den Friedensnobelpreis erhalten, dürfte dies als „Aufwertung“ und „Stärkung“ der Weltorganisation interpretiert werden. Doch ob und wann dies tatsächlich zu einer wieder aktiveren Rolle der UNO und ihres Generalsekretärs führen wird, ist offen. Für den aktuellen Konflikt, durch den die Paradigmen des 1945 mit der UNO-Charta begründeten Völkerrechts wahrscheinlich erheblich verändert werden, scheint es jedenfalls zu spät. „Die Vermittlungsreise nach Kabul hätte Kofi vor dem letzten Sonntag antreten müssen“, meint ein langjähriger, hochrangiger UNO-Mitarbeiter und Freund des Generalsekretärs resigniert. „Jetzt ist es dafür zu spät.“