Der Harlekin lauert im Detail

■ Prog- und Post-Rock als Wahlverwandtschaft: „Marillion“ in der Großen Freiheit

Ohne auch nur einen Takt lang sexy zu sein, gelang es Marillion Anfang der achtziger Jahre, gegen Punk, Funk und Disco ein musikalisches Konzept durch- und fortzusetzen, das nach dem Kollaps der bombastischen Selbstinszenierungen von Yes, Pink Floyd oder Genesis für tot erklärt worden war: Selbst ernannt progressive Rockmusik sollte wieder messbar werden an der Anzahl von Breaks, an Songlänge, Instrumentenpark und illusionistischer Covergestaltung.

Und Marillion schafften es sogar, obwohl alles, was sie an Werksoundästhetik und handgemalten Harlekins auf den Plattenhüllen zu bieten hatten, den einmal verteidigten Begriff des Fortschritts mehr als karikierte: Was bei Soft Machine als Tragödie endete, kam hier als Farce wieder – mit küchenpsychologisch aufbereiteten Binsenweisheiten über eine Misplaced Childhood und dem Bombastepos „Kayleigh“ gelang Marillion 1985 sogar der Charterfolg. So war dieser Aufguss des Art-Rocks der frühen Siebziger ein Grund mehr, Rockmusik und ihre Mittel insgesamt zunehmend in Frage zu stellen.

Wenn Fortschritt in der Popmusik überhaupt möglich ist, dann dort, wo die Regression ausgespielt wird, wo die Rückschrittlichkeit des Materials preisgegeben wird: Kritik heißt Destruktion, Rockmusik ist nur noch im Bewusstsein der Postmoderne denkbar, folglich als Post-Rock.

Nun blieb die Postmoderne statt erklärtem Ende nur das unerklärbare Zwischenspiel der Moderne. Aus Post wurde wieder Pop, aber die geschichtliche Erfahrung des Scheiterns alter rockistischer Konzepte, dass man eben nicht „so“ weitermachen könne, blieb und wurde Signatur neuer Strömungen und Tendenzen; nicht mehr die ewige Wiederkehr des Neuen und die Aufbereitung des Authentischen, sondern die musikalische Spurensuche nach dem Unabgegoltenen und Ungleichzeitigen wurde zum Leitmotiv, und plötzlich gab es wieder pathetische Streicherteppiche bei Mercury Rev, Vocoderstimmen bei Air, fliegende Klanginseln bei Sigor Rós, unprätentiöse Breaks und ekstatische Soundausbrüche bei Radiohead.

Ausgerechnet Marillion, von denen man eine solche Aufmerksamkeit am wenigsten erwartete, verfolgten diesen neuen Umgang mit Popgeschichte und versuchten ohne Anbiederung ihren Platz neu zu bestimmen: Schon das Cover ihres neuen Albums Anoraknophobia beweist eine überraschende Weitsicht, die sich musikalisch durchaus bestätigt. Dass Marillion sich nicht selbst wiederholen möchten, sondern sich lieber zum Beispiel an Radiohead abarbeiten, überrascht zumindest mit den vielen Parallelen, die jetzt zwischen altem Prog-Rock und neuestem Post-Rock hörbar werden; auch wenn im Detail noch immer dieser Harlekin versteckt ist. Ob der auch auf der Bühne auftaucht, bleibt abzuwarten. Roger Behrens

mit White Buffalo: heute, 19.30 Uhr, Große Freiheit 36