Ein kultureller Verlust

■ Das Europäische Sprachenjahr endet an den EU-Grenzen. Die Uni Bremen kümmert sich um Osteuropa

Sechzig Prozent aller Sprachen könnten in 100 Jahren verschwunden sein. Im Europäischen Jahr der Sprachen macht die Universität Bremen eine Vortragsreihe über die Situation der kleineren Sprachen und Dialekte. Der Linguist Thomas Stolz stellt das Programm vor.

taz: Was erwartet uns?

Thomas Stolz: Die Öffentlichkeit erwartet der Versuch, die europäische Tragweite eines interessanten Themas von weltweiter Brisanz skizziert zu bekommen, nämlich das Schicksal der sprachlichen Vielfalt. Das Schlagwort des Sprachensterbens hat ja bereits die Runde gemacht. Nach Schätzungen könnten in den nächsten 100 Jahren etwa 60 Prozent aller heute noch existierenden Sprachen verschwinden. Das gilt auch für Europa.

Um welche Sprachen geht es?

Es gibt unterschiedliche Bedrohungsszenarien. In Europa haben wir auf der einen Seite etwa das Katalanische. Diese Sprache war gefährdet. In der Zeit des Franco-Regimes litt sie wie das Baskische unter massiver Verfolgung. Sie hat aber ihre Agonie überwunden und expandiert heute sogar. Auf der anderen Seite haben wir Sprachen, die nicht verfolgt werden, aber unter dem Zwang zu vereinheitlichender Kommunikation leiden. Das gilt für viele finno-ugrische Sprachen in Osteuropa, zum Beispiel für das in Lettland gesprochene Livische. Die Sprechergemeinschaften umfassen manchmal nur noch einige dutzend Personen. Zu den bedrohten Sprachen gehören aber auch die in Norddeutschland beheimateten wie das Friesische und das Niederdeutsche.

Welche sprachenpolitischen Positionen werden denn vertreten?

Die Pro-Vielfalt-Fraktion ist wohl in der Mehrheit. Sie nehmen an, dass mit jeder verloren gegangenen Sprache auch ein kultureller Verlust verbunden ist. Sie wollen vor allem diejenigen Staaten kritisieren, die sprachliche Vielfalt mit subversiver Bedrohung gleichsetzen. Ein lateinamerikanischer Staat zum Beispiel, dessen Amtssprache Spanisch ist, kann seine Bürger nicht kontrollieren, wenn sie miteinander Quechua sprechen.

Geht es beim europäischen Jahr der Sprachen nicht darum, das Erlernen von europäischen „Großsprachen“ zu fördern?

Wir haben das zum Anlass genommen, Kritik zu formulieren. Die Maßnahmen des Sprachenjahres bezogen sich nur auf die EU. Unserer Auffassung nach ist Europa aber größer. Die osteuropäischen Sprachen kann man nicht einfach so abschneiden. Die in der Vortragsreihe behandelten Sprachen reichen daher von Nuuk in Grönland bis zum Ural. Das andere Problem ist: Die Förderung der Vielsprachigkeit bezieht sich nur auf die gesicherten Sprachen. Statt nur Englisch werden jetzt zwar zwölf Idiome gefördert, die Kleinen aber nicht gleichzeitig mit aufgewertet. Dadurch erleiden die anderen mindestens 48 Sprachen einen weiteren Statusverlust. Konkret: Das nicht bedrohte Niederländisch erhält Unterstützung, das bedrohte Friesische nicht. Das Sprachenjahr ist ein zweischneidiges Schwert.

Fragen: Thomas Gebel

Thomas Stolz hält morgen um 19 Uhr im Uni-Gästehaus auf dem Teerhof den Eröffnungsvortrag „Zur Situation der kleinen und weniger verbreiteten Sprachen in Europa“.