Dynamik der Krise

Die Europäische Union spielt im Anti-Terror-Kampf derzeit nur eine Nebenrolle. Langfristig jedoch könnte der Terrorismus die EU zu einem Staat werden lassen

„Unter dem Druck der Verhältnisse hat Europa sich immer in die richtige Richtung bewegt“ (J. Fischer)

Die Berliner Mauer war das Symbol des Kalten Krieges. Ihr Fall am 9. November 1989 beendete eine Epoche. Auch das New Yorker Welthandelszentrum war ein Symbol – das der globalen Siegermacht USA. Sein Fall am 11. September 2001 könnte ebenfalls eine historische Zeitenwende bedeuten. Denn: Der Gegenschlag in Afghanistan wird nach den Worten von US-Präsident George W. Bush nur der Auftakt zu einem lange andauernden „Krieg gegen den Terrorismus“ sein. Am Horizont des 21. Jahrhunderts dämmert demnach eine neue Epoche heißer Konflikte und kalter Konfrontation heran.

Wie wird sich die Europäische Union im heraufziehenden Terrorzeitalter entwickeln? Dem ersten Eindruck nach überhaupt nicht. Wie zuletzt im Golfkrieg erscheint die EU nicht als außen- und sicherheitspolitische Gemeinschaft, sondern nur in Gestalt ihrer Mitgliedstaaten. Es sind wie gehabt die Regierungskanzleien in London, Paris und Berlin, die höchstselbst über die meisten zivilen und alle militärischen Beiträge zur internationalen Terrorismusbekämpfung entscheiden. „In Kriegszeiten“, so erklärte kürzlich Kommissionspräsident Romani Prodi den aktuellen Bedeutungsverlust der Europäischen Union, „haben die Staaten die Tendenz, sich nach innen zu orientieren.“

Europas Rückfall in nationales Sicherheitsdenken war ein Reflex auf den kollektiven Schock des 11. September. Dabei aber wird es nicht bleiben. Beim heutigen EU-Sondergipfel in Gent werden die 15 Staats- und Regierungschefs ein neues Anti-Terror-Paket beschließen. Darin sind erstmals einheitliche Sicherheitsregeln für den europäischen Flugverkehr und Maßnahmen gegen Geldwäsche vorgesehen. Bundeskanzler Gerhard Schröder bezeichnete gestern im Bundestag eine weitere Vertiefung der EU-Zusammenarbeit bei der inneren und äußeren Sicherheit für „unabdingbar“. Und Außenminister Joschka Fischer pflichtete ihm bei: Eine Renationalisierung der Außenpolitik habe selbst für die größten EU-Staaten keine Perspektive: „Deshalb bleibt nur die Alternative, dass wir uns aufeinander zu bewegen.“

So könnte es in der Tat kommen. Denn sollte die terroristische Bedrohung sich verstetigen, wird sich eher eine Dynamik zugunsten von mehr und nicht weniger EU-Integration entfalten. Die Nationalstaaten werden finanziell und politisch immer weniger in der Lage sein, das Sicherheitsbedürfnis ihrer Bürger aus eigener Kraft zu befriedigen. Aus dem unablässigen Ruf nach mehr Sicherheit werden echte, aber auch vermeintliche Sachzwänge entstehen, die nach einer europäischen Justiz, Polizei und Armee verlangen. Im Szenario eines neuen Terrorzeitalters könnte die Europäische Union dadurch sogar dem Ziel einen entscheidenden Schritt näher kommen, das europäische Visionäre schon lange postulieren: einem Staat Europa.

Die heutige EU ist kein Staat, sondern im Wesentlichen ein Wirtschafts- und Währungsraum mit politischer Verwaltung. Was ihr fehlt, ist vor allem das Monopol der legitimen Gewaltausübung. Die vielfältigen Zuständigkeiten für Justiz, Polizei und Militär liegen fast ausschließlich bei den Mitgliedstaaten. Die haben diesen letzten Bestand nationaler Souveränität bisher stets verteidigt. Doch das könnte sich künftig ändern.

Bislang verfügt die EU weder über eigenes Strafrecht noch über eigene Strafgerichte. Bestrafen darf die Kommission nur Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht im Binnenmarkt, wie kürzlich im Fall von DaimlerChrysler. Jetzt aber hat sich die EU auf das Ziel verständigt, eine Rechtsgrundlage zur Terrorbekämpfung zu schaffen. Konkret soll eine einheitliche juristische Definition für den Tatbestand des internationalen Terrorismus ausgearbeitet werden. Was wie ein Auftrag für eine akademische Trockenübung klingt, legt in Wirklichkeit den Grundstein für ein künftiges Anti-Terror-Gesetz der EU. Gelingt der Durchbruch zu einem echten EU-Strafrecht, müssten dann auch ein eigener Justizapparat und ein Strafgerichtshof folgen. Der Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft (Arbeitstitel: „Eurojust“) ist immerhin bereits in Planung.

Eine gemeinsame Polizeibehörde existiert auch schon. Das europäische FBI in Gründung heißt Europol, residiert seit 1994 im niederländischen Den Haag und hat inzwischen knapp 250 Mitarbeiter. Europol sammelt bisher nur Informationen über grenzüberschreitende Kriminalität und gibt diese weiter an nationale Polizeidienste. Terroristen indes dürfen die Europol-Beamten zwar identifizieren, aber nicht verhaften. Noch nicht. Denn auf Expertenebene wird schon länger über einen europäischen Haftbefehl diskutiert. Und die politische Bereitschaft, Europol polizeiliche Handlungsvollmachten zu geben, ist seit dem 11. September erheblich gewachsen.

Europas eigene Armee ist ebenfalls bereits beschlossene Sache. Ab 2003 soll die neue Krisenreaktionsstreitmacht der EU mit insgesamt 60.000 Soldaten einsatzbereit sein. Faktisch ist ein Großteil der künftigen Unionsarmee bereits heute zur Friedenssicherung auf dem Balkan stationiert. Dort liegt auch das größte Potenzial für Europas militärischen Beitrag zur internationalen Terrorismusbekämpfung. Schließlich überlegen US-Präsident Bush und seine Regierung, ihre Militärpräsenz in Europa zu reduzieren, um dadurch zusätzliche Kräfte im globalen Anti-Terror-Feldzug freizusetzen. Das entstehende Vakuum werden die Europäer füllen. Allen voran wohl Deutschland, das jüngst in Mazedonien erstmals das Oberkommando über eine rein europäische Militäroperation übernommen hat. Nahe liegender und realistischer als Expeditionskorps in Zentralasien oder anderswo wird für Deutschland und die EU die dauerhafte Entlastung der USA an der „Heimatfront“ Europa sein.

Das stärkste Argument für die Einigung Europas war immer die Idee, dass es ein Friedensprojekt sei

Die Ansätze für eine europäische Strafjustiz, Polizei und Armee sind also bereits heute vorhanden. Werden die Pläne verwirklicht, wäre die Europäische Union am Ende kaum noch von einem Staat zu unterscheiden. Von heute aus betrachtet ist der Weg dahin noch weit. Aus historischer Perspektive jedoch wäre gerade ein neues Zeitalter des Terrors geeignet, diesen Weg zu ebnen.

Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass die Einigung Europas ihre stärkste Rechtfertigung immer aus der Idee bezogen hat, ein Friedensprojekt zu sein. Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs hat die Gründung der Europäischen Gemeinschaft erst ermöglicht. Das Ende des Kalten Krieges wirkte als Katalysator für ihre Weiterentwicklung zur Europäischen Union. Kommende Terrorkriege könnten sich deshalb einmal mehr als Integrationsmotor erweisen. Wie sagte Joschka Fischer gestern der Süddeutschen Zeitung: „Unter dem Druck der Verhältnisse hat Europa sich immer in die richtige Richtung bewegt.“ Vielleicht werden wir beim nächsten Epochenwechsel zu der makabren Erkenntnis gelangen, dass Ussama Bin Laden zum mentalen Gründungsvater der Vereinigten Staaten von Europa geworden ist. CARSTEN SCHYMIK