Große Stadtpoesie

Die Seriöse Partei Deutschlands – oder Plakatwahlkampf in Berlin: All diese netten, properen, wohl aufgeräumten, frisch gewaschenen, frisch rasierten Politikergesichter. Fehlt nur noch Schill

von FELIX HERBST

Ich kam einfach nicht drum herum. An jeder freien Fläche der Stadt standen seit Wochen riesige Plakatwände. Auf dem Ernst-Reuter-Platz beispielsweise – nur ein Meter Luft zwischen den Parteien. Notgedrungen beschäftigte ich mich so mit der ästhetischen Seite des Wahlkampfs. Atemberaubend souverän und langweilig präsentierte sich die SPD – die Seriöse Partei Deutschlands. Nette, ernsthafte Menschen, sinnvolle Versprechungen („alle sollen mitmachen dürfen“), ein sympathischer Kandidat; Gesamteindruck: Die sind entspannt und wissen, was sie tun. Das fand auch der Bankangestellte, der Wählengehen für eine Bürgerpflicht hält.

Die Waschmittelwerbung der Grünen fand ich gar nicht witzig, sondern peinlich einfallslos. Als ich das Führungstrio von der PDS auf einem Riesenplakat entdeckte, musste ich immerhin schmunzeln: So sehen die Leute aus, die dich über den Tisch ziehen wollen. In ihrer Wirrnis überzeugend zeigte sich auch die CDU. Die emotionale Wucht ihrer Plakate war zeitweise eine Unfallgefahr. Der Berliner Abendrotkitsch gegen den Terror bannte meinen Blick wie kein anderes Motiv. Große Stadtpoesie war das. Ein Plakat mit Suchtpotenzial. Leider wurde es bald überklebt, teilweise mit diesem Polizei-Smart ohne Räder, Schreckbild einer rot-grünen Regierung, die kein Geld für innere Sicherheit ausgibt. Da schüttelte nicht nur ich den Kopf. Ein Junganwalt konnte es gar nicht fassen. Das würde doch den Daimler-Konzern gleich mit diffamieren. Das kann doch nicht deren Ernst sein. Das muss den CDU-Wahlkämpfern auch aufgefallen sein, und sie klebten „Sicher ist sicher“ darüber. Die Frage, in was für einer Welt Menschen, die so etwas tun, leben bzw. leben möchten, wurde vom großen, bewegenden Schlussbild der CDU-Kampagne beantwortet: Steffel und seine Frau strahlend unter blauem Himmel. Gemeinsam für die Zukunft. Wie die SED in besten Zeiten.

Die raffiniertesten Plakate hatte zweifellos die FDP. Ihre Kandidaten präsentierten sich wie die Stars einer neuen Comedyserie. Die oft sehr jungen Männer grinsten schamlos dämlich und dynamisch um die Wette. Das erweckte den Eindruck, als würden sie sich und alles nicht so ernst nehmen. Wie auch die großen gelben Plakate („Mister Wirtschaft statt Misswirtschaft“) die Balance aus Ironie und Doofheit gut hielten. Nach der Ästhetikanalyse wird die SPD also ein solides Ergebnis einfahren, PDS und Grüne werden keine großen Sprünge machen (wenn, dann nach unten), die CDU ist zu allerlei fähig, und die FDP wird lachend triumphieren.

Echt verzweifelt sind die Westberliner CDU-Wähler. Schon gut gebechert hatte ein quicklebendiger Tempelhofer Rentner, als er mir seine Not gestand. Die CDU kann er nicht noch mal, nach allem, was geschehen ist, aber wen soll er denn sonst? Die Roten kann er nicht, die Grünen auch nicht, und die Roten aus dem Osten schon gar nicht. Sowieso, dass die aus dem Osten vielleicht mitregieren könnten, ist für viele ältere Westberliner ein Albtraum. So klammert man sich an Hoffnungen und stellt Theorien auf, zum Beispiel der Tempelhofer: „Also, Berlin iss ’ne überalterte Stadt. Wenn ick meener Mutter, die is 92, sage, wir kriegen ’nen schwulen Bürgermeister, da fragt die mich: Was ist denn das: schwul? Und wenn ick ihr’s erkläre, schüttelt sie den Kopf und sagt: Nee, nee, so weit isses jekommen.“ Kurzum, er glaubt, er hofft, die alten Leute wählen keinen Schwulen. Und er selbst wird es auch nicht tun.

Bei vielen kommt Wowereit aber an, auch bei älteren Damen. Eine Wilmersdorfer Witwe findet nur nicht gut, wie sie den Diepgen nach Hause geschickt haben. Das hatte keinen Stil. Eine andere ältere Dame weiß nicht, ob sie die Grünen oder die SPD wählen soll. Sie hat ganz vergessen, beim Kaffeetrinken mit ihrer Freundin darüber zu reden. Der mittelalte Mann mit dem knallroten „Zickenbändiger“-T-Shirt weiß dagegen genau, was er wählen würde, wenn es ginge: die Schill-Partei. Einen wie Schill wünschen sich viele. Er könnte auch in Berlin gut 15 Prozent holen. Ich glaube, dass es Überraschungen geben wird. Und ich hoffe, dass sie die Plakate bald abbauen.