Wiederaufbau auf „Ground Zero“ in Afghanistan

Die Zukunftsszenarien für das Land lesen sich wie Katastrophenhilfe fürs Jahr null. Die Neuordnung des Balkans wirkt dagegen wie ein Kinderspiel

DELHI taz ■ „Wir sind nicht im Geschäft des nation building“, sagte Präsident George W. Bush vor einigen Tagen. Er bezog sich auf Afghanistan, das nach zwanzig Jahren Krieg, Dürre und Millionen von Flüchtlingen am Boden liegt. Die USA werden nach einem militärischen Sieg also nicht, in alter Sowjetmanier, ein willfähriges Regime einsetzen. Aber sie werden auch nicht, sagte Bush, „nach Erreichen der militärischen Ziele einfach davonlaufen“, sondern für ein „stabiles Afghanistan“ arbeiten.

Verglichen mit dieser Aufgabe war die Neuordnung des Balkans oder der Wiederaufbau Kambodschas ein Kinderspiel. Die Zerstörung der physischen, staatlichen und sozialen Infrastruktur ist in einem Land verübt worden, dessen schiere Größe – zweieinhalbmal so groß wie Deutschland – den Problemen eine ganz andere Dimension gibt. Der Krieg hat Handelsrouten zerstört, jahrhundertealte Bewässerungssysteme funktionsunfähig gemacht und Kulturland mit vielen Millionen von Minen in Wüste zurückverwandelt.

Die gesellschaftlichen Kosten sind womöglich noch höher. Ein Viertel der Bevölkerung war in den letzten zwanzig Jahren auf der Flucht, Kriegsdienst hat in vielen Fällen den Mann – in einer islamischen Gesellschaft der einzige Ernährer – seiner Familie entrissen; das filigrane Netz von tribalen Nachbarschaftsverhältnissen zwischen Clans und Stämmen ist durch den Zustrom von Waffen, Drogengeldern und den Kauf politischer Loyalitäten häufig gerissen. In den letzten zehn Jahren kam die Zerstörung staatlicher Strukturen hinzu. Nur auf Lokalebene haben sich die traditionellen Formen des Dorfmanagements einigermaßen erhalten.

Die Wiederherstellung dieser administrativen Struktur wird eine Nach-Taliban-Regierung als Erstes in Angriff nehmen müssen. „Es nützt wenig, von einem Marshallplan zu reden, wenn das Land kein Finanzministerium hat, das die Hilfe in Empfang nehmen kann“, sagte ein Vertreter des Hilfswerks Oxfam in Islamabad. Und der Wiederaufbau kann nicht angepackt werden, wenn nicht eine Rumpfadministration da ist. Diese kann nicht arbeiten, solange sie nicht geschützt ist. Afghanistan-Kenner sind sich daher einig, dass der allererste Schritt die Gewährleistung einer minimalen Sicherheit sein muss. Parallel dazu muss die Konstitution eines „obersten Rats“ aller ethnischen Gruppen, der Kriegsparteien und von prominenten Afghanen ins Auge gefasst werden.

Die zur Diskussion stehende EU-Afghanistan-Initiative sieht vor, dass nach einer feierlichen Deklaration der internationalen Gemeinschaft an das afghanische Volk die UNO, zusammen mit Afghanen, aktiv werden muss, um eine „Loya Jirga“ in die Wege zu leiten. Doch die Zeit drängt; der Zerstörungsgrad des Landes, der Winter und die Flüchtlingsnot könnten zusammen zu einer humanitären Katastrophe führen. Dies mag ein Grund sein, dass das EU-Diskussionspapier anerkennt, dass parallel dazu „angemessene UNO-Strukturen“ mit „signifikanter Beteiligung islamischer Länder“ etabliert werden müssen. Der neue UNO-Sonderbauftragte Lakhdar Brahimi hat sich inzwschen schon gegen den Einsatz von UNO-Blauhelmen ausgesprochen. Die Afghanisten-Experten Barnett Rubin und Ashraf Ghani dagegen befürworten im Wall Street Journal den Einsatz einer Friedenstruppe, da die einheimischen Guerillas nach zehn Jahren Bürgerkrieg nicht als neutrale staatliche Truppen anerkannt würden. Vor allem die Hauptstadt Kabul müsse so rasch wie möglich demilitarisiert werden, da es „die einzige Stadt Afghanistans ist, die der ganzen Nation und nicht nur einer Ethnie gehört“. Problematisch ist dabei aber nicht nur die Akzeptanz fremder Truppen in der Lokalbevölkerung. Fraglich ist auch, ob die Länder, die Truppen stellen könnten – man spricht von Bangladesch, Marokko, der Türkei – über entsprechend ausgebildete Soldaten verfügen und ob sie sie zur militärischen Durchsetzung des Friedens in einem islamischen Brudervolk zur Verfügung stellen.

Die USA und die EU-Initiative stimmen darin überein, dass dieser politisch-administrative Prozess von massiver Wirtschaftshilfe begleitet werden muss. Sie muss dabei wie bei einem Katastrophenszenario angegangen werden. Am Anfang stehen die Rückführung der Flüchtlinge und die Garantie für Überleben und Rehabilitation. Es folgt ein langfristig konzipiertes Wiederaufbauprogramm, dessen Schwerpunkte die physische Infrastruktur (Straßen, Telefon, Stromerzeugung, Bewässerung) und die soziale Grundausstattung mit Schulen und Spitälern sind. Dazu gehört aber auch wirtschaftliche Kooperation, die die Standort- und Ressourcenvorteile des Landes nutzt, so etwa die Verkehrslage und den Mineralienreichtum. Falls Afghanistan wieder allein gelassen wird, darin sind sich jetzt selbst westliche Regierungen einig, steht die nächste humanitäre und politische Katastrophe des Landes vor der Tür. BERNARD IMHASLY