„Morgen sind die Europäer dran“

„Wenn er zum Sturz der Taliban führt, ist der Angriff legitim.“

taz: Herr Cohn-Bendit, markiert der 11. September eine Zeitenwende für die Politik?

Daniel Cohn-Bendit: Die Frage ist, ob unsere Art und Weise zu denken nach dem 11. September noch Bestand haben kann. Wir haben den islamischen Fundamentalismus als politisches Projekt nicht ernst genommen. Das war naiv. Meine These ist: Bin Laden verfolgt den strategischen Ansatz, die Macht in Pakistan und Saudi-Arabien zu übernehmen – und damit die Macht über Mekka und die Atombombe. Bin Laden zielt auf den Führungsanspruch in der islamischen Welt. Er will die Konfrontation zwischen einer mobilisierten islamischen Welt und unseren Lebensweisen. Wenn Bin Laden diese Ziele durchsetzt, muss man von einer Zeitenwende sprechen. Die ernsthafte Auseinandersetzung muss darüber gehen, ob es nicht legitim ist, ein antifaschistisches Bündnis gegen die Strategie Bin Ladens zu schmieden – bevor es zu spät ist.

Zeitenwende – ja oder nein, Herr Herzinger?

Richard Herzinger: Nein. Zeitenwende ist ein zu pathetischer und überhöhter Begriff. Er erinnert an das apokalyptische Denken, das sich durch diese brutalen Anschläge auch in unser Bewusstsein wieder hineinfrisst. Man muss die Frage noch härter stellen: Wird es Bin Laden reichen, Pakistan und Saudi-Arabien in der Hand zu haben, um es dann zur Konfrontation mit dem Westen kommen zu lassen? Es wird ihm nicht reichen. Bin Laden entspricht einem religiösen Bewusstsein, das die Apokalypse herbeiführen will.

Wie sieht diese Apokalypse denn aus?

Herzinger: Die Apokalypse ist das höchste Versprechen, erlöst zu werden von einer Welt, die des Satans Schöpfung ist. Das Taliban-Regime ist ausschließlich aus diesem Bewusstsein zu erklären. Ihrer Meinung nach steht das Weltende bevor, die Welt aber muss noch vom Satan – in diesem Falle jenem der Juden und Amerikaner – gereinigt werden. Die Selbstmordattentäter sind die höchsten Helden, weil sie absolut gereinigt in diese Pforte des Himmels treten. Deshalb ist die Strategie der USA grundsätzlich richtig, zusammen mit einem weltweiten Bündnis eine Trennlinie zu ziehen.

Selbst wenn der Islamismus als politisches Projekt jetzt ernst genommen wird: Lässt nicht die ökonomische Globalisierung unter Federführung der USA möglicherweise Gruppen, die ökonomisch vom Reichtum abgekoppelt sind, zu terroristischen Mitteln greifen? Oder ist es ein Widerstand gegen den Siegeszug universeller Werte und den säkularen Rechtsstaat?

Cohn-Bendit: In der Tat prägt die Auseinandersetzung mit der Globalisierung und deren Ungerechtigkeit das Weltbewusstsein. Die Ideologie des politischen Islam Bin Ladens und der Taliban surft auf der Ungerechtigkeit der Globalisierung und der Bereicherung der Eliten in der arabischen Welt. Sei es in Saudi-Arabien, in Syrien, in Tunesien oder in Algerien. Damit lassen sich Massen mobilisieren.

Herzinger: Diese Diskussion über die Globalisierung als Ursache des Terrors führt nicht weit. Diese apokalyptischen Extremisten hassen die Globalisierung doch nicht deshalb, weil sie zu wenig, sondern weil sie zu viele Vorteile für die islamische Welt bringt. Weil sie den Materialismus, die Verführung durch den Konsum, die Auflösung der gottgegebenen Werte ins Land bringt. Es ist doch nicht so, dass die Taliban radikalisierte Kämpfer für soziale Verbesserungen sind. Deren Modell ist eine Welt ohne jeglichen Wohlstand. Das ist eine radikale Negation dessen, was wir unter zivilen Verhältnissen verstehen. Insofern ist es ein Irrtum, die Debatten um Globalisierung und Extremismus zu mischen.

Sowohl die Taliban als auch andere terroristische Gruppen wurden in der Vergangenheit von den USA gesponsert. Müssen sich die USA und der Westen nicht vorwerfen lassen, die Quittung für eine höchst zweifelhafte Bündnispolitik zu bekommen?

Cohn-Bendit: Das Handeln gegen den Terror kann langfristig nur legitimiert werden, wenn der Westen die eigene Politik selbstkritisch hinterfragt. Die Intervention macht nur Sinn, wenn eine politische Perspektive für Afghanistan und für diese Region entwickelt wird. Meine Angst ist, dass die USA in der Mitte des Denkens stecken geblieben sind.

Die USA haben in Afghanistan Bismarck gespielt. In der Situation des Bürgerkrieges kamen die Taliban mit dem Anspruch, über die Abkehr von materiellen Reizen in dieser vollkommen durcheinander geratenen Gesellschaft wieder Ordnung zu schaffen. Das hat die Amerikaner als politisches Projekt fasziniert, weshalb sie die Taliban unterstützt haben. Mit den bekannten Folgen.

Unsere Aufgabe wäre es, neben dieser traditionell realpolitischen Ebene eine Politik zu machen, die gerade in diesen Staaten eine Allianz der Zivilgesellschaft und der demokratischen Kräfte schmiedet. Deshalb müssen wir unseren Beitrag leisten, weil die Amerikaner offensichtlich aufgrund kurzfristiger Interessen nicht in der Lage sind, weitergehend politisch zu denken.

Nochmals zurück zur Globalisierung. Wird durch die Ungerechtigkeit nicht das sympathisierende Umfeld des Terrorismus gestützt?

Herzinger: Ungerechtigkeit ist immer im Spiel, wenn es zu gewaltsamen Konvulsionen kommt. Aber es ist vielleicht zu deutsch, zu idealistisch, in diesen großen Kategorien zu denken. Um zu einer Situation wie in Afghanistan zu kommen, reicht Armut oder soziale Ungerechtigkeit nicht. Es bedarf einer vollkommenen Auflösung staatlicher Ordnung. Da ist es naiv zu denken: Wenn es denen ein bisschen besser gehen würde, dann wären die nicht so extremistisch. Man muss sich mit den komplexen und explosiven Gemengelagen in Ländern wie den Teilrepubliken der ehemaligen Sowjetunion beschäftigen, wo staatliche Ordnungen und Staatsideologien in Auflösung geraten.

Und jetzt kommen die Amerikaner ins Spiel. Bevor man den USA ihre Fehler vorrechnet, muss man erst einmal das Bild verwerfen, es gebe eine ursächliche Globalverantwortung der USA. Das ist eine Allmachtsphantasie. Diese überschätzt, was solch eine Macht tatsächlich kausal bewirken kann, und unterschätzt die eigenen Beiträge dieser Länder in der Region selbst.

Man hatte leicht reden, dass die USA alles falsch machen, weil man sich nie in die schmutzigen Niederungen der Interessenpolitik begeben musste. Gleichzeitig hat man davon profitiert. Das ist wie bei einem großen Papa, dem man alles überlässt, an dem man aber ständig herummäkelt. Jetzt hatte der Papa einen Unfall – und man sieht, dass er gar nicht so allmächtig ist. Plötzlich stehen wir vor dem Problem, uns auch in diese Niederungen der Interessenpolitik begeben zu müssen.

Cohn-Bendit: Ich bin einverstanden mit der Kritik an den USA und deren weltstrukturierendem Ansatz. Es klingt gut, eine multilaterale Kooperation zu fordern. Dann hat der Papa einen Unfall, und wovon träumen wir? Wir sagen: Die Amerikaner sollen nicht allein entscheiden. Es ist ein Unding, dass sich Washington den immer mitmachenden Tommy aussucht und sagt, wir beide machen das allein.

Herzinger: Aber die USA sind primär angegriffen worden.

Cohn-Bendit: Natürlich. In dieser Situation, wo die Amerikaner angegriffen werden, ist diese Forderung nach Multilateralismus doch verlogen – weil wir froh sind, dass sie unilateral denken und das machen. Gleichzeitg wollen wir mitreden, ohne etwas riskieren zu wollen. Es ist verheerend, dass es keine europäische Antwort gibt. Dass wir nicht sagen, wir machen in diesem Bündnis auch militärisch mit, um auf die Politik der USA Einfluss zu nehmen.

„Es muss auch mal jemand über die Klinge springen.“

Ist die militärische Intervention der USA die einzig mögliche Form der Reaktion? Oder ist sie nicht genauso kurzfristig gedacht – weil gar nicht kalkulierbar ist, ob der Gegenangriff die ganze Region destabilisiert?

Herzinger: Wir dürfen uns nicht verführen lassen zu der Annahme: Wenn wir den Konflikt erledigt haben, schaffen wir eine gerechte Welt.

Glauben Sie, dass die Angriffe sinnvoll sind und Bin Laden und die Taliban vernichten?

Herzinger: Wenn man es nicht gemacht hätte, wäre das Risiko der Destabilisierung mindestens genauso groß. Aber ich bin kein Prophet. Ich kann nur fragen, was sich in unseren Köpfen verändern muss. Das Novum speziell für Deutschland und Europa ist doch zu akzeptieren, dass auch wir nationale Interessenpolitik machen müssen. Man muss akzeptieren, dass man im Namen des nationalen Interesses auch mal einen über die Klinge hopsen lassen muss.

Cohn-Bendit: Afghanistan ist für Bin Laden das Terrain für seine politische Strategie mit dem Angriffsziel Pakistan und Saudi-Arabien. Und sage mir einer, das werden sie nicht schaffen. Hat denn jemand geglaubt, dass in Iran Chomeini eine Eigendynamik entwickeln würde, mit der er innerhalb von drei Wochen das polizeistaatliche Regime des Schah wegfegte? Und woher nimmt jemand die Sicherheit, dass dieses Terrorregime in Afghanistan seine Ziele nicht auch realisieren kann?

Deshalb sage ich: Ist dieser Angriff nur eine Bestrafung, dann ist er nicht legitim, weil Bestrafung keine politische Kategorie ist. Aber führt dieser Angriff – auch mit Bodentruppen, mit der Nordallianz – dazu, das Taliban-Regime zu stürzen und damit keine Lager mehr für diesen Terror-Fundamentalismus zu ermöglichen, dann ist der Angriff legitim. Als ich die Bilder vom World Trade Center gesehen habe, war mir klar: Morgen können die Terroristen ein Flugzeug auf Biblis stürzen. Und dann sind wir dran. Auch wir Europäer haben etwas zu verteidigen. Wir müssen uns fragen, wie viel uns unsere Freiheit wert ist.

Dokumentation eines taz-Gesprächs auf der Frankfurter Buchmesse. Moderation: Bascha Mika und Eberhard Seidel. Bearbeitung: Thilo Knott