Abends sind wir klüger

Vor den Kabinen. Wählen gehen viele aus unterschiedlichen Gründen. Manche aus Verlegenheit wie in Frohnau, manche, weil es das erste Mal ist, wie in Friedrichshain. Die meisten ganz unaufgeregt

Die Enttäuschten findet man in Kreuzberg in den Parks. Osman auf dem Mariannenplatz, seit über dreißig Jahren in Deutschland, den das Bier schon am frühen Nachmittag nuscheln lässt. Politiker? „Es gibt keine guten.“

Mona Swayti dagegen glaubt noch an Politiker. Sie darf seit acht Jahren hier wählen, geboren wurde sie im Libanon. Morgens wollte sie sich mit ihrer Freundin zur Wahl verabreden: „Die hatte keine Lust. Und meine Mutter hat keine Wahlbenachrichtigung bekommen. Vielleicht hat sie sie weggeschmissen – sie kann Deutsch nicht lesen.“

Es gäbe so vieles zu regeln, sagen Claudia und Wiebke, die hinter ihr in der Schlange stehen, die sich vor den Wahlkabinen gebildet hat. Das Bildungssystem etwa. Über Wowereit wissen sie nicht viel. Trotzdem finden sie:„Der könnte es am ehesten.“

„Jetzt haben wir wieder das Frohnauer Ergebnis durcheinandergebracht“, ruft eine kleine Frau mit Brille triumphierend, als sie das Wahllokal verlässt. Doch viel gibt es hier im äußersten Norden nicht durcheinanderzubringen. In Frohnau wohnt, wer das nötige Kleingeld für den Sprung aus dem Moloch Großstadt hat, meist in einer der Villen, die sich in lauschige Waldgrundstücke schmiegen. Bei der letzten Wahl konnte die CDU über 60 Prozent der Stimmen einfahren. Das ist ein Polster, das bei allen zu vermutenden Verlusten der Konservativen, halten müsste für Frank Steffel. Er ist hier Direktkandidat und war schon vor einer halben Stunde, um elf, im Wahllokal in der Benediktinerstraße, um seine Stimme abzugeben.

Er ist einer von ihnen, und dennoch glauben auch in Frohnau die meisten nicht mehr, daß ihr Kandidat Regierender Bürgermeister wird. „So dämlich, wie die sich angestellt haben“, sagt ein grauhaariger Mann um die 50 erbost und meint die CDU. Ein anderer in Khaki-Jacke ist vorsichtig bei der Bewertung, wie Steffel sich als Kandidat verkauft habe: „Nicht besonders gut, um nicht zu sagen: schlecht.“ Und ein Dritter sagt resigniert: „Die Stimmung in Berlin ist im Moment generell links, da kann man nichts dran machen.“ Ein dynamisch jugendlicher Typ will keine Fragen beantworten: „Nicht zu dieser unerfreulichen Wahl hier in Berlin.“ Warum er dann überhaupt gewählt habe? „Reine Verlegenheit“, ruft er und schwingt sich in seinen Mercedes.

Hier ist alles rot: Die letzten Rosen in den Kleingärten, die Ziegeldächer der Einfamilienhäuser und die Platten an der Enid-Blyton-Grundschule am S-Bahnhof Kaulsdorf. Die Plakate der Direktkandidaten erinnern Unentschlossene vor dem Wahllokal daran, wem sie ihre Stimme geben können. „Gysi wählen: Nur hier mit beiden Stimmen“ mahnt die PDS, daneben lächelt Mario Czaja von der CDU, der bei den Abgeordnetenhauswahlen 1999 den Wahlkreis als eines von zwei Direktmandaten im Osten für die Christdemokraten gewann. Ein Jahr zuvor hatte Gysi sich hier noch bei den Bundestagswahlen mit 46,7 Prozent der Erststimmen das Ticket in den Bundestag mühelos gesichert.

Trotzdem ist der Wahlkreis Kaulsdorf/Mahlsdorf anders als die benachbarten Plattenbauviertel. In den charmant baufälligen Stadthäusern und Eigenheimen wohnen die Gewinner der Wende: Mittelständische Unternehmer, Handwerker und Angestellte im öffentlichen Dienst. Die unterschiedlichen Meinungen gehen hier quer durch die Familien. „Wir haben schon beim Mittagessen bei unseren Großeltern leichte Dispute gehabt, wer wen wählt“, sagen die Schwestern Maxi und Franziska auf dem Weg zum Wahllokal lachend. Die 20-jährige Franziska, Betriebswirtschaftsstudentin, hat bei den letzten Wahlen PDS gewählt. „Ich dachte, die tun das Beste für den Osten.“ Dieses Mal hat sie ihrer Stimme der CDU gegeben. „Ich hab mich mehr informiert und danach entschieden, wer die besseren Wirtschaftskonzepte hat.“ Ihre jüngere Schwester Maxi, Abiturientin und Ertwählerin, sieht das anders. „Ich wähl Gregor Gysi, weil er mir sympathischer ist als alle anderen.“ Auch für die 42-jährige Sekretärin, die mit ihrem fünf Jahre jüngeren Lebensgefährten gerade das Kreuzchen-Machen hinter sich hat, war die Sympathie für den PDS-Spitzenmann ausschlaggebend. „Gysi ist eine Persönlichkeit, der fasziniert mich.“ Das sieht Helene S., pensionierte Lehrerin, genauso. Sie wählt seit der Wende PDS, aber „dass Gysi Bürgermeister wird, daran glaubt niemand von meinen Bekannten,“ lächelt die 71-Jährige. „Das ist ja auch nicht so wichtig. Hauptsache, die PDS kümmert sich um die, die von den anderen immer vergessen werden. Egal, ob in der Opposition oder in der Regierung.“

Mittagszeit in Friedrichshain. Während Herbstwind Laub über die fast ausgestorbene Frankfurter Alle treibt, herrscht etwas abseits der ehemaligen Prachtstraße reges Treiben: Bunte Wählergrüppchen, vorwiegend im Studentenlook, haben sich im Foyer der Franz-Fühmann-Oberschule zusammengedrängt. Eine der Wahlhelferinnen wundert sich über den ungewöhnlichen Betrieb. Stoßzeit sei hier eigentlich zwischen drei und vier und natürlich nochmal kurz vor sechs. „Wegen der vielen jungen Leute im Bezirk“ erklärt sie mit einem wohlwollenden Lächeln: „Die wollen erst mal ausschlafen.“

Das Wahlprozedere geht gemächlich von statten und zwischendurch bilden sich vor den aus Holz improvisierten Wahlkabinen kleine Schlangen. „Das dauert ja fast so lang wie bei H&M“, mosert ein sturmfrisierterter Mittzwanziger. Doch trotz des momentanen Andrangs hält sich die Wahlbeteiligung bisher in Grenzen: Zur Halbzeit um 13 Uhr hat nicht einmal ein Fünftel der 1028 Wahlberechtigten im Stimmkreis 524 von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Überhaupt ist von Wahleuphorie keine Spur. Eher Pragmatismus und staatsbürgerliche Pflichterfüllung.

Nein, das sei kein besonderer Tag, konstatiert ein Herr mittleren Alters: „Ich bin hier weil ich nicht will, dass FDP und CDU rankommen.“ Eine weißhaarige Rentnerin, die sich als gebürtige Westfälin entpuppt, hat vor dem Mauerbau „aus Liebe“ in den Osten geheiratet. Jetzt gehe es ihr vor allem um die Versöhnung, der „so zerrissenen Stadt“. Der Osten sei rot, der Westen schwarz und diese Kombination mache sich eben „nur bei der Kleidung gut“. Mehr will sie dazu nicht sagen: „Heute abend sind wir alle klüger.

MD/BF/US/HKL