Eine endlose, niemals endgültige Form

Mal erstarrt sie als doppelte Acht, dann erscheint sie als rasante Reiterin: Mehr als ein Jahr lang bewegte Holly Zausner auf einem Dach in New York ihre schwere G-Woman aus Silikon. Von hier aus schien ihr die Stadt wie eine feste Burg. In der Galerie Wohnmaschine sind Fotos ihrer Durchhaltearbeit zu sehen und ihre Skulptur, jetzt statisch und leblos

Gleich auf der ersten Fotografie im Katalog, der Holly Zausners Ausstellung „G-Woman“ in der Galerie Wohnmaschine begleitet, erkennt man im Hintergrund die Zwillingstürme, die es jetzt nicht mehr gibt. Das Bild zeigt die Künstlerin auf dem Dach eines Gebäudes in Manhattan, wie sie ein auf dem Bild nicht weiter definierbares Objekt in die Luft schleudert. Um sie herum gruppiert sich die Dachlandschaft der anderen Häuser, überragt vom weit im Hintergrund erkennbaren WTC.

Das undefinierbare Objekt, das als eine luftige Figur im Himmel über New York schwebt, liegt nun in mehrfacher Ausführung auf dem Boden der Galerie: Neongelb und neonrot, entpuppt es sich als ein aus schwerem, aber flexiblem Silikon gegossener, vergleichsweise kleiner Frauenkörper, dessen wahrhaft extreme Extremitäten nicht enden wollen. Die langen dünnen Arme gehen umstandslos in die langen Beine über, oder umgekehrt, je nachdem wie der Blickwinkel ist. Eine aufgrund ihrer Proportionsverschiebung verblüffende Körperplastik; eine niemals endende, trotzdem durchaus endliche Figur, freilich mit unendlichen Variationsmöglichkeiten. Keine formlose Form, wie Ralf Christofori im Katalog schreibt, „wohl aber eine endlose – will sagen: niemals endgültige“.

Die Wandlungsmöglichkeiten dieser Figur erprobte Holly Zausner auf dem Dach ihres Atelier-Lofts, das in der 10. Straße, zwischen der 18. und 19. Straße West, in Chelsea liegt. Sie warf, besser wuchtete ihre 32 amerikanische Pounds schwere, knochenlose G-Woman in die Luft, wo sie sich dreht und windet. G-Woman, möchte ich wetten, heißt Gravitation-Woman, steht doch der Buchstabe G in der Physik für die Schwerkraft. Doch sie straft ihren Namen Lügen, wenn sie als schwereloser Kreis im Himmel zu schweben scheint. Dann wieder erstarrt sie als doppelte Acht vor dem großen Kühlhaus in der Nachbarschaft, das nun die Drug Enforcement Agency (DEA) beherbergt, und das nächste Mal erscheint sie als rasante Reiterin, die gefährlich nah am Abgrund zur 10. Straße gerade noch Halt zu machen vermag.

Das Spiel mit der in Bewegung gesetzten Skulptur ist auf zehn großen C-Prints festgehalten, die im ersten Raum der Galerie, über den am Boden liegenden, jetzt leblosen, statischen, als in klassischer Form verharrenden Plastiken, hängen. Die Farbfotografien sind Dokumente von über einem Jahr Arbeit; einem Jahr, in dem Holly Zausner jede Woche drei- bis viermal auf das Dach stieg und bis zu fünf Stunden lang ihre Silikonfrau bewegte, bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit. Im Lauf der Stunden geriet dieser Wurf der Figur in den Raum, der zunächst Spaß und Tanz ist, erst zum Kampf und schließlich zum schieren Durchhalten. Eine intensivere Auseinandersetzung mit der Entfaltung der Skulptur in der Stadt scheint kaum vorstellbar. Manhattan im frühen Morgengrauen, im Sonnenuntergang, als neonglitzerndes Lichtspiel in der Nacht: G-Woman ist vor allem auch der Dialog mit der Stadt New York.

Holly Zausner lebt und arbeitet dort, wo sich der letzte Kunstweltboom erreignete, in Chelsea. Allerdings, das Haus, in dem sie das Loft bewohnt, kaufte sie sich zusammen mit einer Gruppe anderer Künstler schon 1979, also rund zwanzig Jahre bevor die großen Galerien dort alle hinzogen. Es war waste land, kein U-Bahn-Anschluss, außer Autoreparaturwerkstätten, dem Straßenstrich und der Drogenszene war dort nichts zu finden, und die Freunde weigerten sich, Holly abends zu besuchen. Zu gefährlich.

Erste zivilisatorische Fortschritte brachte 1987 das Dia Center for the Arts in die Gegend, und als die Gagosian Gallery 1996 nach Chelsea zog, brach der große Galerienboom an. Oben auf dem Dach ist davon freilich nichts zu spüren. Hier ist die Stadt für Holly Zausner und ihre G-Woman ehern, unbewegt und eine feste Burg. So schien es. Bis zum 11. September. Und so bekommt das Aufmacherbild des Katalogs, der natürlich längst vor dem Unglückstag fertig gestellt war, eine ganz neue Bedeutung. Es war ein Abschiedsgespräch.

BRIGITTE WERNEBURG

Galerie Wohnmaschine, bis 10. 11., Di.–Sa. 11–18 Uhr, Tucholskystraße 35