Wider die Verdrängung

Die andere Generation Kohl: Zum Tode des Kritikers und Regisseurs Theodor Kotulla

Er war ein leidenschaftlicher Cineast, der sich für eine neue Filmkultur im Nachkriegsdeutschland einsetzte. Die Zeitschrift Filmkritik wurde für Theodor Kotulla zum Forum, seit den ersten Ausgaben 1957 gehörte er zu ihren Autoren. Die aufmüpfigen studentischen Filmclubs, in den Fünfzigerjahren Treffpunkte der linksliberalen Nachwuchsintellektuellen, waren nicht nur Orte, wo man nachholte, was Goebbels wegzensiert hatte, sondern auch ästhetische Zukunftswerkstätten. Kotulla schrieb für sie wie für die Frankfurter Hefte und gab zusammen mit Enno Patalas Textbücher zu wichtigen Filmen heraus.

Anders als ihr Zeitgenosse Helmut Kohl sahen die Filmkritik-Freunde ihr Alter nicht als „Gnade der späten Geburt“ an. Sie waren knapp dem Kriegsdienst entgangen, hatten aber die Hitler-Diktatur lange genug erfahren, um jeden frischen Wind im europäischen Kino zu begrüßen und vor allem polemisch gegen die einsetzende Restauration, gegen die Verdrängung und Schönrednerei der Nazi-Vergangenheit anzuschreiben. Wichtig war ihr Interesse an der Überwindung der Ost-West-Spaltung. So veröffentlichte Kotulla auch Texte von polnischen Regisseuren wie Jerzy Kawalerowicz. Der italienische Neorealismus war sein großes Vorbild, die westdeutschen Kriegsfilme empörten ihn in der Adenauer-Ära am tiefsten. Filme waren für ihn ein Spiegel der Gesellschaft, Horkheimer, Adorno, Benjamin, Kracauer und Brecht die Kronzeugen seiner Kritik.

Für Kotulla bedeutete das Kriegsende einen radikalen Neuanfang. Er wurde 1928 in Königshütte, unweit von Krakau und Auschwitz, geboren. Den polnischen Namen seiner Geburtsstadt Chorzów nannte er in biografischen Angaben zuerst. Er betonte, dass sein Vater bis zum deutschen Überfall zwei Kirchenchöre geleitet hatte, einen deutschen und einen polnischen. Kotulla flüchtete 1946 und studierte Philosophie und Germanistik in Münster, wo er Enno Patalas, den Gründer der Filmkritik, kennen lernte. Wichtig war für Kotulla, dass er während des Studiums als Bergmann arbeitete, auf der Grube Rheinpreußen, Schacht IV.

Die Gründung des ZDF und der dritten Fernsehprogramme in den 60ern boten ihm und einigen seiner Filmkritik-Kollegen die Chance, ihre Vorstellungen im Fernsehen zu realisieren. Fernsehen galt als filmkultureller Bypass um „Papas“ absterbendes Kino und die egomanischen Autorenregisseure des neuen deutschen Films herum. Sein neues Terrain wurde das Drehbuchschreiben, unter anderem für Peter Lilienthal und Tankred Dorst. Mit Filmkritik hatte sich Kotulla zunehmend schwer getan. Die fragmentarische, selbstreflexive Nouvelle Vague, vor allem die Filme von Jean-Luc Godard, waren nicht mehr mit seinen, der ideologiekritischen Literaturkritik entlehnten Maßstäben auf den Begriff zu bringen.

Unter seinen Regiearbeiten war „Aus einem deutschen Leben“ die wichtigste. Darin ging er 1977 noch einmal in die Geschichte seiner Heimatregion zurück. Anders als Syberbergs Remythisierung lag ihm an einem nüchternen Versuch, die Mentalität eines Nazi-Mörders darzustellen. Götz George spielte den Auschwitz-Kommandanten Höss, das Skript basierte auf dessen Tagebuch und zeigte das Nebeneinander von deutschem Familienleben und Tötungsmaschinerie. Das reaktionäre Weltbild, das Höss aus dem Freicorps am Ende des Ersten Weltkriegs auf den SS-Männerbund übertragen hatte, war ein Schlüssel zu seiner Geschichte.

Das deutsche Kino machte Theodor Kotulla wütend, in den letzten Jahren wie zu Beginn. „La Haine“ von Mathieu Kassovitz war einer seiner letzten Lieblingsfilme. Einen vergleichbaren deutschen Film über Jugendliche wollte er sehen.

CLAUDIA LENSSEN