: Gegen Staub und Langeweile
Ein Filmessay zum Begriff des Dokumentarischen und des Realistischen: Alberto Cavalcantis Film and Reality aus dem Jahr 1942 im Metropolis ■ Von Christiane Müller-Lobeck
Er habe die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation aufheben wollen, gab Bahman Ghobadi, der Regisseur des heute anlaufenden Films Zeit der trunkenen Pferde, zu Protokoll. Seine Kinderdarsteller sind durchweg Laien, sie stammen aus dem im Film gezeigten Dorf, das Leben dort, an der Grenze von Iran und Irak kennen sie nur zu genau. Die Eindringlichkeit ihres Spiels rührt vor allem von dieser Nähe zur gezeigten Lebensrealität her. Der junge kurdische Regisseur, der ebenfalls aus der Region kommt, hat damit die Tradition des iranischen Neorealismus weiter radikalisiert.
Dass der Film als Kunstform wie keine andere von Beginn an einer Darstellung von Wirklickeit verpflichtet war, daran erinnert ein essayistisches Filmdokument aus dem Jahr 1942. In Film and Reality, zu sehen im Metropolis, nahm sich Alberto Cavalcanti eine gründliche Betrachtung der Geschichte der Kinematographie von ihren Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs vor. Cavalcanti, der auf Erfahrungen in der französischen Avantgarde-Bewegung und eine langjährige Mitarbeit in der britischen Dokumentarfilmschule zurückblicken konnte, kam dabei allerdings zu Schlüssen, die bei seinen Kollegen auf wenig Gegenliebe stießen.
Denn obwohl er die zunehmende Kommerzialisierung der avantgardistischen Experimente scharf verurteilte, hob er die Bedeutung der poetischen Wagnisse und technischen Errungenschaften der Experimentierer hervor: für eine Darstellung von Wirklichkeit, die mehr als formalisiertes Abbild ist. Ein Zitat von Rabindranath Tagore, das Cavalcanti einem Aufsatz zur „Verteidigung des Dokumentarfilms“ voranstellte, ist ihm auch hier, bei der filmischen Auseinandersetzung mit dem Thema, Programm gewesen: „Die Wirklichkeit mit schlecht interpretierter Bedeutung und falscher Betonung ist nichts als Phantasie.“
An zahlreichen Ausschnitten aus kammerspielartigen,noch stark dem Theater verpflichteten Dramen wie auch anhand dokumentarischer Filme kann Cavalcanti zeigen, wie künstlich ein derartiger, auf Tricks und Technik verzichtender Umgang mit Wirklichkeit wirkt. Und auch mit Kritik an den exotisierenden und romantisierenden Reisefilmen etwa Robert Flahertys wird in Film and Reality nicht gegeizt. Cavalcanti, der für sich in Anspruch nimmt, den Begriff Neorealismus noch vor den Italienern geprägt zu haben, arbeitete hier im Grunde schon an einer Aufhebung der Grenze zwischen filmischem Drama und Dokumentarfilm. Vorbild einer realistischen Darstellung von Wirklichkeit, die sich um diese Grenze nicht schert, ist ihm beispielsweise G. W. Pabsts Spielfilm Kameradschaft.
Zielscheibe von Cavalcantis Kritik ist vor allem der Filmemacher, Produzent und geistige Mentor der britischen Dokumentarfilmschule John Grierson (z.B. Drifters 1929). „Grierson legte auf einen unmittelbaren, streng funktionellen Stil Wert, während sich um mich die Anhänger des Forschens und Experimentierens versammelten, die bis an die Grenze einer gewissen Überzüchtung von Ton und Farbe gingen“, schrieb einmal Cavalcanti rückblickend.
Die Kontroverse, die Film and Reality auslöste, ist sehr stark von persönlichen Eitelkeiten geprägt. Nicht zuletzt war es Grierson, der Cavalcantis Arbeit in Großbritannien überhaupt möglich gemacht hatte. Doch wenn bald darauf andere Filmer der British School, wie etwa Paul Rotha, Grierson zur Seite sprangen, dann taten sie das auch in Verteidigung einer puristischen Vorstellung davon, was sozial engagierter Dokumentarfilm sein soll. Wogegen Cavalcanti antrat, war aber gerade der „Beigeschmack von Staub und Langeweile“, wie er es nannte, den das Wort „dokumentarisch“ durch diesen Purismus im Laufe der Jahre bekommen hatte.
Cavalcantis Film and Reality ist sehr passend ein Kurzfilm zur Seite gestellt, der anhand spät entdeckter Filmaufnahmen aus dem letzten Jahr der Grabungen von Heinrich Schliemann in Troja im Grunde das selbe Thema diskutiert. Der leicht ironische Blur up – Wahre Bilder vom wirklichen Schatz des Priamos von Martin Emele nämlich zeigt die Möglichkeiten digitaler, gemeinhin als Täuschung verschrieener Möglichkeiten der Bildbearbeitung, bisher unbekannte Wirklichkeiten ans Licht zu befördern. Mehr noch: wie die Multimedien mit einer neuen Schicht von Realität geradezu gleichzusetzen sind.
Donnerstag, 21.15 Uhr, Metropolis
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