Gestohlen und unverzinst zurück

„Die geschenkte Stunde“: Ein Literaturmarathon mit Musik anlässlich der Zeitumstellung  ■ Von Stefanie Richter

Am Wochenende wird wieder an der Uhr gedreht. Dann geht wie jedes Jahr das Rätseln los: eine Stunde vor – oder zurück? Wird die Nacht länger oder kürzer? Ist es morgens heller oder dunkler? Und wozu eigentlich das Ganze? Seit 1980 gibt es in der Bundesrepublik die Sommerzeit. Die Idee: durch das Extra an Tageslicht wird im Sommer Energie gespart. Leider konnte das Statistische Bundesamt bislang keine nennenswerten Ein-sparungen feststellen. Unbezweifelbar aber stürzt die Umstellung viele Menschen immer wieder in große Verwirrung. Die Folgen: Zuspätkommen, Orientierungslosigkeit, abenteuerliche Mutmaßungen über Zeit und Raum, ausufernde Kulturveranstaltungen.

Sinnigerweise ist es in Hamburg das Wochenblatt Die Zeit, das anlässlich der endenden Sommerzeit kulturell üppig auftischen will. Unter dem Motto Die geschenkte Stunde lädt es in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag ins Museum für Kunst und Gewerbe zu einem groß angelegten Lesemarathon. Über 30 Autorinnen und Autoren werden sich in den verschiedenen Ausstellungsräumen positionieren, um streckenweise zeitgleich aus ihren Werken vorzutragen. Das Publikum kann wie sonst auch nach Belieben durch das Museum spazieren und zum Beispiel bei Terezia Mora im Spiegelsaal vorbeischauen, Feridun Zaimoglu im Vestibül erwischen, Thor Kunkel im Mittelalter oder Peter Rühmkorf in der Renaissance. Zu vorgerückter Stunde wird außerdem Musik aufgetischt, unter anderem von Rocko Schamoni und der Sgt. Pepper Fun Band.

Aber wieso eigentlich Die geschenkte Stunde? Umsonst ist der Eintritt in das Museum jedenfalls auch am Sonnabend nicht. Wer schenkt hier also wem eine geschlagene Stunde? Indem die Uhren um sechzig Minuten zurückgestellt werden, springt tatsächlich eine Art Bonus-Stunde heraus, die ganz nach Lust und Laune verjubelt werden kann: Eine Stunde länger schlafen vielleicht. Oder eine Stunde länger in der Lieblingskneipe saufen. Vielleicht mal wieder ein gutes Buch lesen. Oder sich tatsächlich mit Rocko die Extra-Portion Kultur reinschaufeln.

Bei Lichte betrachtet ist das natürlich nichts als Augenwischerei. In Wirklichkeit bekommen wir überhaupt nichts geschenkt. Denn genau diese sechzig Minuten haben wir selbst vor einem halben Jahr auf die hohe Kante gelegt. Sie gehören also längst uns. Eigentlich sollten wir sogar Zinsen verlangen: Mindestens drei Prozent, das wären dann also drei Minuten 36 Sekunden für sechs Monate.

Die Veranstalter der Geschenkten Stunde wollen uns trotzdem weismachen, Sonnabend hätten alle irgendwie mehr Zeit. Und sie wissen natürlich auch schon, wofür: für Literatur! Die Verlagsgruppe Holtzbrinck, zu der neben der Zeit auch die Buch-Verlage der lesenden Dichter und Dichterinnen gehören, setzt offenbar ganz bewusst auf Verwirrung: In ihrem Programm heißt es mysteriös, die geschenkte Stunde „verschiebt die Grenzen der Zeit, des Raumes und der Orte“. Unglaublich: Da stellt man bloß die Uhr um eine Stunde zurück, und schon gerät das ganze Raum-Zeit-Gefüge durcheinander. Was würden die Physiker dazu sagen?

Die Quantentheorie bedauert, dass sich entweder der Ort oder die Geschwindigkeit eines Teilchens bestimmen lässt, nicht aber beides gleichzeitig. Gilt das jetzt auch für Dichter? Entweder man kriegt raus, in welchem Raum sie sitzen, oder um welche Uhrzeit sie lesen? Einstein würde mit der Relativitäts-Theorie dagegen halten: Raum und Zeit sind relativ. Die Zeit vergeht langsamer, je schneller sich ein Gegenstand von einem Ort zum anderen bewegt. Also, je schneller die Besucher durchs Museum flitzen, desto länger müssen die AutorInnen vorlesen? Mal ganz abgesehen von dieser wirren Metaphysik kann es am Samstag tatsächlich ganz lustig werden. Das Programm enthält genügend Höhepunkte, als dass einem die Zeit schon nicht lang wird zwischen Milchkännchen, Chinesischen Vasen und Spiegelsaal.

Sonnabend, ab 19 Uhr, Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz